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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Immunologe klärt auf Droht statt Corona jetzt eine Grippewelle?
Über 5,6 Millionen Menschen husten und schniefen derzeit. Doch Corona ist nicht mehr der Hauptgrund dafür. Die Grippewelle hat begonnen.
Die Corona-Zahlen sind weiter rückläufig, dafür rollt eine neue Viruswelle über das Land: die Grippe. Für fast ein Drittel der derzeitigen Atemwegserkrankungen sind Influenzaviren verantwortlich, berichtet das Robert Koch-Institut. Wie gefährlich kann das werden? t-online fragte den Immunologen Andreas Radbruch.
t-online: Herr Radbruch, aktuell überlagert eine neue Grippewelle das Infektionsgeschehen. Die Corona-Infektionszahlen geraten in den Hintergrund. Löst jetzt ein Virus das andere ab?
Andreas Radbruch: Nein, Viren haben uns immer schon umgeben und werden es auch weiterhin tun. Bei Covid-19 war das SARS-CoV-2-Virus neuartig und es war nötig, eine Grundimmunität in der Bevölkerung aufzubauen. Und deshalb mussten wir zuerst alle und dann lange noch diejenigen besonders schützen, die durch das Virus besonders gefährdet sind. Durch Impfung und Infektionen haben inzwischen die meisten Menschen eine Grundimmunität. Natürlich haben wir auch bessere Behandlungsmethoden als am Anfang der Pandemie. Nur noch selten sehen wir schwere Krankheitsverläufe. Eine Grundimmunität gegen Influenzaviren haben wir aber längst erreicht.
Was meinen Sie damit?
Grippeviren kennen wir und unser Immunsystem schon sehr lange. Man kann sagen, dass praktisch jeder hierzulande schon mal Kontakt damit hatte, und viele sind auch geimpft. Die meisten von uns haben viele Antikörper gegen Influenzaviren im Blut und Gedächtniszellen des Immunsystems, die uns vor schweren Krankheitsverläufen schützen, und davor, an der Influenza zu sterben.
Vor Ansteckung schützt die Impfung gegen Influenza dagegen auch nicht sehr eindrucksvoll, wie bei Corona. Die Grippewelle kommt übrigens auch in diesem Jahr nicht früher als in anderen Jahren, wir haben sie nur in den letzten zwei Jahren praktisch gar nicht erlebt, weil die Hygienemaßnahmen in der Pandemie natürlich gegen alle Atemwegsinfektionen gewirkt haben.
Aber wenn wir eine so hohe Grundimmunität gegen Grippe haben, warum wird dann trotzdem die Impfung für Risikogruppen jedes Jahr neu empfohlen?
Man kann – besonders wenn man älter oder immungeschwächt ist – so noch etwas zusätzlichen Schutz gewinnen. Viel ist es nicht, aber statistisch signifikant, und so können doch einige Todesfälle verhindert werden.
Dr. Andreas Radbruch ist Immunologe und Wissenschaftlicher Direktor des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums Berlin. Er berät unter anderem den Gesundheitsausschuss des Bundestages.
Es geht im Kern um zwei Eiweiße bei der Influenza, H und N?
Ja, es geht um die Proteine Hämagglutinin und Neuraminidase der Influenzaviren. Das Virus braucht sie, um uns zu infizieren, und genau wie bei SARS-CoV-2 mutieren die Influenzaviren diese wichtigen Eiweiße, es gibt verschiedenen Varianten.
Jedes Jahr stellt sich die Frage, welche Variante uns denn heimsucht, und ob wir rechtzeitig den passenden Impfstoff parat haben. Aber im Grunde sind die Viren für unser Immunsystem nicht ganz neu. Das immunologische Gedächtnis schützt uns recht zuverlässig, nicht vor Ansteckung, aber vor schwerem Krankheitsverlauf.
Weil Grippe endemisch ist?
Genau, wir leben damit seit Langem. Im Übergang in die Endemie sind wir bei Corona ja nun Gott sei Dank auch angekommen.
Der Impfstoff gegen Grippe wird aber ganz anders zusammengestellt als der gegen Corona …
Ja. Zum einen schaut man, welche Varianten des Virus in den südlichen Ländern vorkommen, wenn dort Winter ist und bei uns noch Sommer. Man geht davon aus, dass die dann später zu uns kommen, wenn der Winter beginnt. Dann stellt man einen Mix aus drei oder vier Varianten der Viren zusammen. Die Viren werden dann in Hühnereiern vermehrt, aufgereinigt und entweder abgeschwächt oder abgetötet – eine fast mittelalterliche Methode. Als sogenannter Totimpfstoff oder als abgeschwächter Virus, also als inaktiver Krankheitserreger, wird der Impfstoff eingesetzt.
Um das Immunsystem zu aktivieren ...
Im Kern geht es ja immer darum, das Immunsystem zu aktivieren, speziell auf diese Viren zu reagieren, spezifische Antikörper zu bilden und Immungedächtniszellen, die uns bei erneuter Infektion vor diesen Erregern schützen. Es dauert ungefähr ein halbes Jahr, einen solchen angepassten Grippeimpfstoff herzustellen, man kann nur hoffen, dass man nicht daneben gelegen hat mit der Vorhersage der relevanten Varianten.
Es gab auch schon Jahre, in denen das nicht so gut funktioniert hat ...
Manchmal weiß man auch gar nicht so genau, wie gut ein Grippeimpfstoff funktioniert, weil die Reaktion des Immunsystems gar nicht systematisch erfasst wird. Man hat dann nur epidemiologische Daten darüber, ob mehr Menschen gestorben sind als in anderen Jahren, die sogenannte "Übersterblichkeit", die man dann der Grippe zurechnen kann, zumindest zum Teil.
Weil wir Grippe bei Weitem nicht so genau untersuchen wie Corona?
Bei Weitem nicht so genau. Ich erhoffe mir jetzt einen neuen Schub für die Erforschung unserer Immunreaktion bei Infektion und Impfung, auch bei Influenza und anderen Infektionskrankheiten. Und einen Schub für Entwicklung und Einsatz der immunologischen "Instrumente", der immunologischen Tests, der therapeutischen Antikörper und der Impfstoffe. Es gibt zum Beispiel auch immunologische Schnelltests für Grippe. Die werden aber bislang kaum genutzt. Weil Grippe als endemisch gilt – wir leben damit.
Bei der Grippeimpfung setzt man auch auf die neue Technologie der mRNA-Impfstoffe?
Ja, in Zukunft könnte man so die Impfstoffe sehr viel schneller und präziser herstellen, auch in größeren Mengen. Und genau wie bei Corona wird emsig daran gearbeitet, einen Super-Impfstoff zu entwickeln, also einen Pan-Influenza- und einen Pan-Corona-Impfstoff: Impfstoffe, die eine Immunität gegen alle oder die meisten Varianten induzieren. Dann würden uns ein oder zwei Impfungen für das ganze Leben reichen, so wie bei Masern, Mumps oder Röteln.
Herr Radbruch, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Andreas Radbruch