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ADHS: Schul-Frühstarter bekommen häufiger die Diagnose


Zu jung eingeschult?
Frühstarter erhalten öfter die Diagnose ADHS

Von dpa, afp, t-online
Aktualisiert am 01.12.2016Lesedauer: 3 Min.
ADHS: Verhaltensgestört oder einfach noch nicht reif für die Schule?Vergrößern des Bildes
Verhaltensgestört oder einfach noch nicht reif für die Schule? Je früher Kinder eingeschult werden, desto eher erhalten sie die Diagnose ADHS. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)
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Wenn Kinder früh eingeschult werden, erhalten sie später häufiger die Diagnose ADHS und bekommen Medikamente. Das hat eine Studie belegt. Experten empfehlen deshalb, die Stichtagsregelung für die Einschulung zu überdenken. Sie bezweifeln, dass alle betroffenen Kinder wirklich ADHS haben.

Wann für Kinder die Grundschule beginnt, richtet sich nach einem Stichtag. In manchen Bundesländern liegt er im Sommer, in anderen am Jahresende. Kinder, die bis zu diesem Datum sechs Jahre alt werden, kommen nach den Sommerferien desselben Jahres in die Schule. Deshalb sind manche Schulanfänger erst fünf Jahre alt.

Die frühe Einschulung kann negative Folgen haben, wie eine ADHS-Studie des Zentralinstituts für die kassenärztliche Versorgung und der Ludwig-Maximilians-Universität München zeigt. Die Forscher haben Daten von sieben Millionen Kindern zwischen vier und 14 Jahren aus den Jahren 2008 bis 2011 ausgewertet.

Demnach wurde bei 5,3 Prozent der Kinder, die mit fünf Jahren oder kurz nach ihrem sechsten Geburtstag eingeschult wurden, das "Zappelphilipp-Syndrom" diagnostiziert. Bei den rund ein Jahr älteren Schülern waren dies nur 4,3 Prozent. Außerdem bekommen jüngere Kinder auch häufiger ADHS-Medikamente wie Ritalin. Die Ergebnisse der Studie decken sich mit Untersuchungen in anderen Ländern.

Jüngere Schüler gelten schneller als "Zappelphilipp"

Wenige Wochen oder Tage zwischen Geburtstag und Stichtag können gravierende Folgen haben. Die Forscher vermuten, dass das Verhalten jüngerer und damit oft unreiferer Kinder in einer Klasse mit dem der älteren Klassenkameraden verglichen wird. Jüngere seien oft hyperaktiv, impulsiver und weniger aufmerksam. Dieses Verhalten werde möglicherweise als ADHS interpretiert, was die Wahrscheinlichkeit einer Diagnose erhöhe.

Bei schwierigeren Unterrichtsbedingungen, zum Beispiel in größeren Klassen und bei einem höheren Anteil nichtdeutscher Schüler, fielen aktivere Kinder wahrscheinlich noch stärker auf, folgert Jörg Bätzing-Feigenbaum, der an der Studie mitgewirkt hat.

Mehr Kinder werden schon mit fünf eingeschult

Die Experten machen die Stichtagsregelung für die "Diagnosehäufigkeit psychischer Erkrankungen bei Kindern" mitverantwortlich. Weil die Diagnose ADHS für die Kinder ein Stigma sei und die Medikamente starke Nebenwirkungen haben könnten, regen sie an, die Einschulung flexibler zu handhaben.

Bis zum Jahr 2003 war der 30. Juni in allen Bundesländern der Stichtag. Kinder, die bis zu diesem Datum sechs Jahre alt wurden, mussten eingeschult werden. Doch dieser Stichtag wurde inzwischen in acht Ländern nach hinten verschoben.

In Thüringen auf den 1. August, in Rheinland-Pfalz auf den 31. August, in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen auf den 30. September. In Berlin ist der Stichtag erst am 31. Dezember. Das hat zur Folge, dass viel mehr Kinder bei der Einschulung erst fünf Jahre alt sind.

Ist es wirklich ADHS? Psychiater sind skeptisch

Der Kinder- und Jugendpsychiater Martin Holtmann von der LWL-Universitätsklinik Hamm bezweifelt, dass alle ADHS-Diagnosen bei den jungen Kindern stimmen. "Wahrscheinlich ist, dass die Kinder aufgrund ihrer relativen Unreife im Klassenverband eher negativ auffallen", sagte er der Süddeutschen Zeitung.

Auch Professor Tobias Banaschewski, Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, hält die Hypothese der Studienautoren für plausibel. "Die Aufmerksamkeitsfähigkeit und Fähigkeit zur Impulskontrolle sind entwicklungsabhängig", betont er. Jüngere Kinder hätten eine vergleichsweise kürzere Aufmerksamkeitsspanne. Allerdings ist er mit der Einschätzung der Diagnosen vorsichtiger: Man dürfe die Ergebnisse nicht als Beleg dafür interpretieren, dass die jüngeren Kinder komplett unauffällig wären und es sich um reine Fehldiagnosen handelte.

Banaschewski stellt die Früheinschulung nicht grundsätzlich in Frage. Sinnvoll sei es jedoch, bei der Einschulungsuntersuchung verstärkt auf die kognitive und emotionale Reife zu achten. "Reifungsverzögerte Kinder und solche, deren Aufmerksamkeitsspanne eher grenzwertig ist, sollte man nicht zusätzlich früh einschulen", rät er.

ADHS gilt als häufigste Verhaltensstörung bei Kindern

Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ist die häufigste psychische Störung bei Kindern und Jugendlichen und kann bis ins Erwachsenenalter fortbestehen. Schätzungen zufolge sind 500.000 bis 600.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland betroffen. Jungen haben drei- bis viermal so häufig ADHS wie Mädchen. Die Kinder sind leicht ablenkbar und haben einen ausgeprägten Bewegungsdrang. Sie neigen zudem zu impulsivem und unüberlegtem Verhalten und sind emotional instabil.

Seit den 1990er Jahren hatten die Verordnungen von Arzneimitteln gegen ADHS stark zugenommen. Experten führen das auf verbesserte Diagnosemöglichkeiten und eine früher einsetzende Therapie bei Kindern zurück. Sie kritisieren aber auch, dass Medikamente manchmal voreilig verordnet würden.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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