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Interview mit ADHS-Experten: Ritalin nicht einfach absetzen


Interview mit einem ADHS-Spezialisten
Ritalin nicht einfach absetzen

t-online, Simone Blaß

Aktualisiert am 17.11.2016Lesedauer: 6 Min.
ADHS-Kinder haben auch viele positive Eigenschaften, findet Kinderarzt Klaus Skrodzki.Vergrößern des Bildes
ADHS-Kinder haben auch viele positive Eigenschaften, findet Kinderarzt Klaus Skrodzki. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Ein Kind mit ADHS hat es nicht leicht. Es wird von anderen gemieden und eckt überall an. Die Eltern schwanken zwischen Mitgefühl und ständiger Anspannung. Dann scheint das Medikament Ritalin eine verlockende Lösung für alle Beteiligten zu sein. Alle Probleme wären auf einmal gelöst. Oder entstehen neue? Antworten von einem Experten.

Die Eltern-Redaktion von t-online.de hat sich mit Klaus Skrodzki unterhalten. Er ist der stellvertretende Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft ADHS beim Verband der Kinder- und Jugendärzte (Stand: Februar 2016). Skrodzki arbeitet seit Jahrzehnten mit Kindern, die von der Störung betroffen sind. Er weiß, wie man ADHS-Medikamente richtig einsetzt und wann es Zeit ist, sie wieder abzusetzen.

t-online.de: Ritalin und Co. werden oft in einem Atemzug mit der Droge Speed genannt, einem Amphetamin, das psychische Abhängigkeit erzeugt. Gibt es wirklich einen Zusammenhang?

Klaus Skrodzki: Derzeit werden zwei Substanzen eingesetzt bei ADHS: Methylphenidat, das bei uns bereits seit 60 Jahren erfolgreich verwendet wird und das in dem Handelspräparat Ritalin enthalten ist. Sowie Dexamphetamin. Es ist bei uns erst seit 2013 zugelassen.

Die in den Medikamenten enthaltenen Substanzen sind ganz andere als jene, die auf dem Drogenmarkt gehandelt werden. Sie bauen keinen Wirkspiegel im Blut auf und werden relativ schnell verstoffwechselt. Wenn es notwendig wäre, könnte man sie ein Leben lang nehmen und würde weder körperlich noch seelisch davon abhängig werden.

Bei jemanden, der nicht von ADHS betroffen ist, wirken die Substanzen höchstens wie ein Anregungsmittel, das etwas länger wach hält. Als Mittel zur Leistungssteigerung sind sie definitiv nicht geeignet.

Die Wirkung der Medikamente verschwindet nach einigen Stunden komplett. Ist es für ein Kind nicht schwierig, immer zwischen den Extremen zu pendeln?

Ja und nein. Normalerweise versuchen wir, nach der Einstellung mit einem kurz wirksamen Präparat - je nach Alter des Kindes - auf ein Retardpräparat überzugehen, das zwischen fünf und zwölf Stunden wirkt und den Wirkstoff in kleinen Dosen abgibt. Die Kinder sollen damit lernen, sich besser zu konzentrieren, aufmerksamer zu sein und ihr Verhalten zu steuern.

Wir hoffen immer, dass Kinder diese Verhaltensweisen später automatisieren und dann ohne Medikament zurechtkommen. Aber das geht nicht immer. Ich glaube, es ist vor allem für die Eltern schwierig. Obwohl sie durch den Wechsel sehen, dass das Medikament wirkt.

Viele Eltern geben ihrem Kind Ritalin während der Schulzeit, am Wochenende und in den Ferien aber nicht. Halten Sie das für sinnvoll?

Das kann man machen, es ist aber nicht unbedingt sinnvoll. ADHS ist eine zu 80 Prozent genetische Störung, die in ihrer Ausprägung von vielen Faktoren abhängig ist. Kinder mit einer ADHS sind unruhig, impulsiv, lassen sich ablenken, stören die anderen. Es fällt ihnen schwer, konzentriert und ausdauernd bei einer Sache zu bleiben, insbesondere wenn die nicht so interessant ist, wie das in der Schule schon mal vorkommt. Aufmerksam zu sein ist erheblich schwieriger für sie als für andere Kinder.

Durch die Medikamente kann ich ein solches Kind in die Lage versetzen, seine Fähigkeiten einzusetzen: Länger und konzentrierter mitzuarbeiten und damit auch Erfolge zu haben. Aber wir lernen nicht nur in der Schule, sondern auch im Alltag. Soziales, aufmerksames Verhalten brauchen wir genauso in der freien Zeit. Es wäre fatal, die Freunde, die man in der Schule gewonnen hat, am Nachmittag und am Wochenende wieder zu vergraulen. Der Mensch lernt und entwickelt sich eben nicht nur in der Schule. Aber es gibt auch Kinder, bei denen das funktioniert.

Raten Sie dazu,Ritalin, wenn es über einen längeren Zeitraum eingenommen wird, auch einmal abzusetzen?

Natürlich muss ich als Arzt immer wieder hinterfragen, ob dieses Kind das Medikament noch braucht. Behandlungsfreie Zeiten sollen einmal jährlich dokumentiert werden. Die Eltern liefern uns die Information darüber, wie es ist, wenn das Medikament nicht mehr wirkt. Sie erleben es ja täglich.

Wenn ein Kind schon länger behandelt wird und gut zurechtkommt, sollte man es zunächst in den Ferien ohne Medikament versuchen. Wenn das klappt, kann die medikamentenfreie Zeit in den Schulalltag ausgedehnt werden. Aber immer unter Kontrolle. Dann kann man bei Verschlechterung rechtzeitig wieder aktiv werden.

Früher erlebten wird öfter, dass das Medikament einfach abgesetzt wurde. Nach einem Jahr kamen die Eltern wieder und berichteten von den Katastrophen, die inzwischen passiert waren, weil alle alten Probleme erneut aufgetreten waren.

Seit 2011 ist Methylphenidat auch für Erwachsene zugelassen. Muss man, wenn man ADHS hat, denn ewig Tabletten nehmen, um Struktur in sein Leben zu bekommen, oder kann man sie irgendwann absetzen?

Das hängt immer davon ab, wie ausgeprägt die Störung ist und welche Anforderungen der Alltag an denjenigen stellt. Viele Erwachsene mit ADHS brauchen zur Bewältigung des Arbeits- und Privatalltags die Medikation. Der Künstler mit einer diagnostizierten und behandelten ADHS, der seine Kreativität lieber ohne Medikation auslebt, braucht diese vielleicht dann, wenn er seine Steuererklärung machen oder verhandeln muss. Mit seiner Erfahrung mit dem Medikament kann er dieses dann auch gezielt einsetzen.

Erleben Sie häufig Eltern, die ihr Kind lieber ruhigstellen wollen, statt ihre eigenen Verhaltensweisen auf den Prüfstand zu stellen?

Eines muss man klar sagen: Ich arbeite seit 35 Jahren mit ADHS-Kindern und es ist eine Seltenheit, dass Eltern ihre lebhaften Kinder ruhigstellen wollen. Wobei Methylphenidat ja auch kein Beruhigungsmittel ist, sondern ein Stimulanz, das Kontrollzentren in unserem Gehirn aktiviert, die situationsangepasstes Verhalten ermöglichen.

Aber natürlich ist es manchmal für Eltern schwer, das eigene Verhalten zu ändern. Vor allem, wenn sie selbst betroffen sind und das gar nicht wissen. Es gibt Fälle, bei denen das Kind in einer anderen, vielleicht weniger chaotischen Familie möglicherweise ohne Medikamente auskäme.

Hinzu kommt: ADHS hat nichts mit Intelligenz zu tun. Da gibt es die gleichen Bandbreiten wie in der Normalbevölkerung. Ein intelligenteres Kind findet jedoch oft bessere Strategien, mit der Störung umzugehen. Das Wichtigste im Umgang mit ADHS sind Aufklärung und Beratung: Was ist ADHS, warum verhält sich ein Kind mit ADHS so, was braucht es und wie kann man mit ihm und den Problemen umgehen. Aber auch: Was hat ein solches Kind für liebenswerte Eigenschaften.

Welche positiven Besonderheiten hat ein Kind mit ADHS?

Ich liebe diese Kinder. Sie verblüffen mich selbst nach drei Jahrzehnten immer noch mit ihren Ideen. Sie sind charmant und wie kleine Stehaufmännchen. Sie stecken so viel ein und weg und bleiben dennoch fröhlich.

Sie bekommen dadurch, dass ihre Filter nicht richtig funktionieren, viele Dinge mit, die andere gar nicht registrieren. Zum Beispiel, welche Materialien der Vogel vor dem Schulfenster zum Nestbau verwendet.

Sie sind extrem ehrlich und hochsozial, ohne sich zu überlegen, ob sie selbst davon profitieren oder sich gar schaden.

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Und wenn sie etwas gefunden haben, was sie fasziniert, dann sind sie so konzentriert - hyperfokussiert -, dass sie besser sind als die 'Normalos'. Man findet Menschen mit ADHS in allen Berufsgruppen, aber besonders oft sind sie Manager, Journalisten, Ärzte, Künstler oder Schauspieler. Da werden die angeborene hohe Aktivität, blitzschnelles Reagieren und hohe Emotionalität nutzbringend eingesetzt.

Was ist Ihrer Meinung nach das Schwierigste für Kinder mit ADHS?

Dass sie überall anecken. Es fällt ihnen schwer, Mimik und Gestik der anderen richtig zu deuten und sich entsprechend zu verhalten. Auch die eigene Körpersprache ist nicht adäquat, das heißt, sie zeigt nicht, was sie eigentlich meinen und empfinden. Diesen Kindern steht das Grinsen noch im Gesicht, wenn es ihnen schon ganz schlecht geht.

Umso wichtiger ist es, ADHS früh genug zu identifizieren, um helfen zu können. Denn je länger das Problem besteht, desto eher werden diese Kinder zu Außenseitern. Und dann kommen weitere Probleme dazu wie Depressionen oder Aggressionen - je nach Typ.

Interessant ist dabei: Seit wir die Erwachsenen im Blick haben, erkennen wir, dass wir bisher zu wenige Mädchen diagnostiziert haben. Denn Mädchen sind meist nicht hyperaktiv und fallen dadurch weniger auf, haben aber sonst die gleichen Aufmerksamkeitsprobleme. Sie werden eher schnell für dumm gehalten.

ADHS früh erkennen - ab wann ist das möglich?

Wir haben Eltern, die kommen mit ihrem sechs Wochen alten Baby und fragen, ob es ADHS haben könnte, weil es noch nicht durchschläft. Das ist natürlich absurd. Es gibt zwar Hinweise, dass frühe Regulationsstörungen wie zum Beispiel extremes Schreiverhalten oder Schlafstörungen bei ADHS häufiger vorkommen.

Aber wirklich entscheiden, ob ein Kind ADHS hat, kann man frühestens mit vier bis sechs Jahren - meistens erst im zweiten oder dritten Schuljahr. Ob allerdings richtig diagnostiziert wird, das hängt nicht nur von der Erfahrung ab, sondern auch von der Zeit, die man dafür aufbringt.

Leider steht einer umfangreichen, sach- und leitliniengerechten Diagnostik, Beratung und kontinuierlichen Betreuung keine adäquate Honorierung der Krankenkassen gegenüber. So dass es kein Anreiz für Ärzte ist, sich dieser Patientengruppe zu widmen. Für betroffene Eltern ist die negative Darstellung von ADHS in vielen Medienberichten und die fehlende Unterstützung durch die Politik nur schwer zu verstehen und zu ertragen.

Was empfehlen Sie diesen Eltern?

Sich an Selbsthilfeverbände wie ADHS Deutschland zu wenden. Hier setzt man sich seit Jahrzehnten für Betroffene und ihre Angehörigen ein und hier bekommt man den Rat, den man braucht.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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