Sterbende Kinder Was hilft, wenn nichts mehr hilft?
Es ist wohl das Schmerzhafteste, was Eltern passieren kann: Das eigene Kind beim Sterben begleiten. Marion G. und Christine S. machten dies im vergangenen Jahr durch. Bewundernswert: Sie helfen anderen Eltern in derselben Lage und sprechen ganz offen über ihre Erfahrungen mit dem frühen Tod.
Tapfer um jedes Lebensjahr gekämpft
Joshua war ein besonders fröhlicher Junge. 13 Jahre durften seine Eltern Marion und Tobias G. sein Lachen genießen, bis es am 13. Januar 2011 für immer verstummte. Der Junge starb nach langem Kampf - zuhause, in den Armen seines Vaters. Auch Maren hat ihre Familie mit nur 14 Jahren für immer verlassen. Sie starb am 8. August vergangenen Jahres im Krankenhaus. Den Transport nach Hause hätte sie nicht überlebt.
Marens Leben war von Anfang an in Gefahr
"Dass Maren 14 Jahre bei uns war, sehe ich als großes Geschenk", erzählt Marens Mutter Christine. Denn mit ihren angeborenen Grunderkrankungen hätte Maren gar nicht leben dürfen: Bereits mit zehn Wochen musste ihr Herz transplantiert werden. Maren wusste, dass ihre Zeit sehr begrenzt ist: "Als es Zeit war loszulassen, ist sie ganz friedlich gestorben." Ihre Eltern hatten im Vorfeld alles mit Maren besprochen und geregelt: Wie die Trauerfeier aussehen wird und dass sie einen Baum im Garten pflanzen werden.
Joshua wollte irgendwann nicht mehr leben
Joshua war ein scheinbar gesundes Kind, fing mit einem Jahr zu sprechen und laufen an. Als er eines Tages hinfiel und es nicht mehr geschafft hatte, sich mit den Händchen abzufangen, fuhren die Eltern ins Krankenhaus. "Nach einer Kernspintomographie war die Diagnose klar", erinnert sich seine Mutter Marion. Joshua hatte Leukodystrophie, eine genetisch bedingte Stoffwechselstörung. Sie schritt rasant voran. Innerhalb von zwei Wochen verlernte Joshua laufen, krabbeln und sitzen. "Mehr als hilflos zuzuschauen, konnte niemand machen. Die Ärzte entließen uns nach Hause und gaben ihm noch zwei Jahre."
Doch Joshua kämpfte wie ein Wilder um sein Leben, bis er den Kampf mit 13 Jahren dann doch verlor. "Vor dem Tod hatte Joshua keine Angst. Es war für ihn ganz klar, dass er dann unter Engelsfreunden ist - endlich frei, ohne Schmerzen und Atemnot. Damit hat er auch uns Kraft und Mut gegeben." Da ihm Erstickungsanfälle so schwer zu schaffen machten, wollte Joshua schon im Sommer 2010 sterben. "Leider hatte er dann einen sehr schweren Weg: Die Sterbephase dauerte von Oktober 2010 bis Januar 2011."
Jede Familie hat ihren eigenen Weg
Für Joshua war klar, dass er zuhause sterben wollte. Maren musste die letzten Wochen im Krankenhaus intensivmedizinisch betreut werden - Nebenwirkungen der Medikamente, die sie seit der Transplantation täglich nehmen musste, hatten schließlich auch noch zu Krebs geführt. "Ich dachte vorher, dass Maren zuhause sterben würde. Doch das Leben mit einem unheilbar kranken Kind lehrt uns, dass Unvorhergesehenes passieren kann. Im Krankenhaus war sie einfach am besten versorgt - und nachdem wir einen eigenen Raum für die ganze Familie bekommen hatten, war es auch dort gut", sagt Christine S. Die Möglichkeit, zum Sterben in ein Kinderhospiz zu gehen, hatten beide Mütter ebenfalls im Vorfeld organisiert. "Man muss sich vorher um alle Eventualitäten kümmern, sich intensiv mit dem Tod auseinandersetzen - auch wenn es dann vielleicht ganz anders wird. Denn Sterben ist eine Grenzerfahrung, die nicht absehbar ist und überwältigt. Wenn es in diese Phase geht, kann man nichts mehr reden oder organisieren, dann muss man beim Kind sein, sonst nichts", weiß Marion G.
Ein tragfähiges Netzwerk schaffen
Joshua daheim sterben zu lassen, bedeutete 24-Stunden-Pflege: "Es musste immer jemand da sein, um seine Atmung zu überwachen und ihm bei Schmerzen und Angst beizustehen. Im Notfall mussten Joshua auch Medikamente gespritzt werden." Um solch eine Betreuung umsetzen zu können, muss man sich vorher kümmern. "Intensive Gespräche, das Kennenlernen von Kinderpalliativmedizinern, Vertrauen aufbauen, die Organisation von Familienbegleitern, Seelsorgern, Pflegekräften, Psychologen, ambulantem Kinderhospizdienst, Sozialpädagogen, Großeltern oder Freunden, die vielleicht helfen können - all das muss vor der eigentlichen Sterbephase passieren.
Man braucht Menschen, die die Bedürfnisse der Familie dann umsetzen", so Marion G. Bei Joshua war das neben einigen Palliativmedizinern vor allem seine Kinderärztin. "Wir hatten sie gefragt, ob sie uns begleiten würde. Dass es dann solche Formen annahm, wusste natürlich keiner, aber sie hat zu ihrer Zusage gestanden: In seinen letzten Lebenstagen brauchte Joshua sie beinahe jede Nacht. Dann saß sie stundenlang an seinem Bett, hat mit uns ausgeharrt, oft bis drei Uhr früh." Ganz wichtig sei, sich ein möglichst großes Netzwerk aufzubauen: "Je größer dies ist und je intensiver man alles besprochen hat, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass der ein oder andere dabei ist, der das alles mit aushält."
Betroffenen Hilfestellung bieten
Dass der Aufbau solch eines Netzwerks gar nicht so einfach ist, mussten Marion G. und Christine S. nach der Diagnose "sterbenskrank" selbst erfahren. Vergeblich suchten sie nach Hilfe und Unterstützung für ihre besondere Lebenssituation. Mit weiteren betroffenen Eltern schlossen sie sich dann im Jahr 2000 zusammen und gründeten den gemeinnützigen Verein "Familienkreis behinderter und schwerkranker, sterbender Kinder - buss-Kinder e.V." mit Sitz in Germering bei München. Er begleitet Familien ab der Diagnose, im Leben, im Sterben und über den Tod hinaus. Je nachdem, was die Familie braucht, gibt es Kontakte zu verschiedensten Hilfsangeboten. "Wir können zwar nicht Pflege- oder Kinderpalliativgeld-Anträge, etc. ausfüllen, aber an die richtigen Stellen vermitteln. Es ist extrem wichtig, schnell zu reagieren - nicht, dass die Familie auch noch in finanzielle Not kommt." Doch dafür gebe es immer noch nicht genügend Unterstützung.
Eltern todkranker Kinder sehen sich mit vielen Hürden konfrontiert: "Hilfe von einem Pflegedienst wurde bei Joshua nicht sofort genehmigt", erzählt Marion G. "Wir mussten Einsprüche einlegen, bis wir nach einem Jahr endlich ein paar Stunden genehmigt bekamen. Doch selbst dann konnten wir nicht versorgt werden: Pflegenotstand!" Bei den "buss-Kindern" können Betroffene dann neuen Mut schöpfen: "Man lernt andere Familien kennen, die solch schlimme Situationen schon überlebt haben. Auch sie sind durch die Hölle gegangen, aber man sieht: Die haben das ausgehalten; denen geht’s gar nicht nur schlecht. Wir können das Sterben nicht abwenden, aber wir können das Beste aus dem Leben mit unseren Kindern machen. Man kann lernen, sich Kraftquellen zu schaffen, um den Alltag auszuhalten", so Marion G., "sich zum Beispiel schon an kleinen Dingen, wie einem Lächeln, freuen." Seminare zur Veränderung der Problemwahrnehmung stehen bei den "buss-Kindern" deswegen regelmäßig auf dem Programm. Daneben gibt es Gesprächskreise und Trauergruppen für die Eltern, Nachmittagsangebote für die Kinder und Treffen ihrer Geschwister.
Geschwister besonders gefordert
Als Maren vergangenes Jahr starb, war ihre Schwester Diana gerade 16 Jahre alt. Mit einem immer kranken Geschwisterkind aufzuwachsen, das einen dann auch noch viel zu früh verlässt, stellt solch junge Menschen vor Situationen, die schon einen Erwachsenen überfordern: In der Schule müssen sie weiter funktionieren, Gleichaltrige können die Situation kaum nachempfinden oder verstehen und Behindertenwitze sind in Schulen eher an der Tagesordnung als Mitgefühl. "Wir als Erwachsene können mit Freunden über die Situation reden und uns auch besser distanzieren. Doch das Kind in der Schule kann das nicht", weiß Christine S. Diana musste sich an einem Tag von ihren Mitschülern anhören, warum sie denn immer noch traurig sei und am nächsten, wie sie denn überhaupt lachen könne.
Doch solche Probleme kriegen die Eltern kaum mit - zumindest nicht solange der kleine Patient noch lebt: "Die Geschwisterkinder halten viel von uns weg. Sie wollen uns schützen, würden zum Beispiel niemals äußern, dass sie sich vernachlässigt fühlen. Darum ist es so wichtig, dass sie von den Geschwistergruppen und deren betreuenden Sozialpädagogen aufgefangen werden", weiß Christine S. "Mann und Frau haben sich noch - und noch ein Kind." Diana ist jetzt einzeln übrig geblieben und bringt die Situation mit ihren eigenen Worten auf den Punkt: "Das ist voll scheiße Mama, dass Du nicht noch mehr Kinder bekommen hast. Dann wäre ich jetzt nicht so alleine."
Das Abschiednehmen beginnt mit der Diagnose
Bekommen Eltern die Diagnose, dass ihr Kind unheilbar krank ist, stürzt sie das in die erste Trauerphase: "Ich muss mich vom Leben mit einem gesunden Kind verabschieden. Dann trauere ich um jeden Rückschritt, jede verlorene Fähigkeit und muss hilflos zusehen, wie das Leben aus meinem Kind rinnt. Am Ende steht das Sterben und Loslassen", resümiert Marion G. ihre traurige Erfahrung mit Joshua. Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist etwas, was man vor sich herschiebt, was Angst macht. "Doch wenn mein Kind im Sterben liegt, hilft nur, das anzunehmen: Die Frage nach dem "Warum" muss man ablegen - darauf wird man nie eine Antwort finden!"
Den Verlust ihrer Kinder Joshua und Maren tragen Marion G. und Christine S. immer mit sich. Sie lassen den Schmerz zu, weinen, wenn Tränen hochkommen. Doch am Leben hindert es sie nicht. "Hier die Balance zu finden, ist sehr schwierig", sagen die Frauen. "Trauer hat auch etwas tröstliches - und sie braucht Zeit. Auch die Gesellschaft muss einem gestatten, sich für die Trauer Zeit zu nehmen. Nach einem Jahr ist es noch nicht vorbei - vielleicht auch nicht nach zwei oder drei Jahren, vielleicht nie..."
Weitere Infos: Um von den "buss-Kindern" (www.buss-kinder.de) Hilfe zu bekommen, muss man kein Mitglied sein - auch wenn sich der Verein rein aus Spenden finanziert. Telefonische Beratung und Information zu allen Themen, die Familien mit einem behinderten und schwerkranken, sterbenden Kind betreffen, bekommt man jeden Donnerstag und Freitag von 10 bis 12 Uhr unter 089/84936218. Der Anrufbeantworter wird jedoch täglich abgehört.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.