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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Weihnachtsmärkte zu Corona-Zeiten "Wenn diese Saison ausfällt, dann ist es das Ende"
In vielen deutschen Städten öffnen die ersten Weihnachtsmärkte – wenn sie denn noch dürfen. Doch Veranstalter und Budenbetreiber haben große Sorgen vor einem erneuten Lockdown. Ein Besuch vor Ort.
Beim Bezahlen hapert es noch. Mehrere Male hält der ältere Herr seine EC-Karte ans Lesegerät, immer wieder blinkt dieselbe Fehlermeldung auf. Susan, kurze braune Haare, FFP-2-Maske vor Mund und Nase, ist irritiert: "Das haben wir zuletzt vor einem Jahr rausgeholt. Ist offenbar tiefenentladen."
Die 57-Jährige betreibt seit 2014 einen Stand für Olivenholzschnitzereien auf dem Berliner Weihnachtsmarkt am Roten Rathaus. Der Mann, den sie gerade bedient, ist ein Stammkunde. Unverrichteter Dinge trottet er jetzt wieder fort, Bargeld holen, die ausgewählten Schneidebrettchen zahlt er später.
Vor genau einem Jahr, im ersten Corona-Winter, wurden deutschlandweit fast alle Weihnachtsmärkte abgesagt. Auch dieses Jahr sieht es eher schlecht aus. In Bayern haben die Behörden bereits alle Weihnachtsmärkte kurz vor der Eröffnung abgesagt, auch der legendäre Striezelmarkt in Dresden öffnet seine Tore dieses Jahr abermals nicht.
In Berlin dagegen öffnen am heutigen Montag immerhin sieben Weihnachtsmärkte. Andere Veranstalter haben sich umentschieden. Der bekannte Weihnachtsmarkt vor dem Schloss Charlottenburg etwa oder der Lichtermarkt am Rathaus Lichtenberg fallen aus. Doch auch am Roten Rathaus geht jetzt die Sorge unter Besuchern, Standbetreibern und Security-Mitarbeitern um, dass es hier bald vorbei sein könnte mit der Weihnachtsstimmung.
Verband: 5.000 Familienbetriebe stehen vor dem Aus
Damit sind sie nicht allein. In ganz Deutschland zittern die Budenbesitzer, sagt Albert Ritter, Präsident des Deutschen Schaustellerbundes (DSB). Er betreibt in Essen selbst mehrere Glühweinstände auf dem Weihnachtsmarkt und kann die Sorgen der Kollegen im ganzen Land gut nachvollziehen.
Noch ehe er die ersten Rollläden hochziehen kann, muss er viel Geld in die Hand nehmen: Für das Personal, Hotelzimmer vor Ort, Standgebühren, natürlich die Waren. Bei den meisten Schaustellern liegen die Vorleistungen im vier- bis fünfstelligen Bereich – noch bevor sie überhaupt einen Cent eingenommen haben. "Wenn die Saison nun erneut ausfällt, dann ist es das Ende", sagt Ritter. "Dann stehen knapp 5.000 Familienbetriebe vor dem endgültigen Aus."
Viele Schausteller hätten sich nur mit Müh und Not über Wasser halten können, mit Aushilfstätigkeiten und den letzten finanziellen Reserven. Viele hätten bereits in der Verwandtschaft um Geld bitten müssen oder haben ihre Lebensversicherung aufgelöst, andere haben hohe Kredite aufgenommen.
Gleichzeitig fallen laut Ritter im kommenden Jahr die ersten Rückzahlungen für die Überbrückungskredite an, die viele Betroffene in der Pandemie erhalten haben. "Wovon sollen wir die bezahlen, wenn wir jetzt wieder alles schließen müssen? Uns droht ein riesiger Jo-Jo-Effekt", so Ritter.
"Noch ein Jahr schaffe ich es nicht"
So geht es auch Malini Pfitzner. Unter dem Namen "Natur-Alien" betreibt sie mehrere Stände in Berlin, verkauft handgemachte Seifen, Zahnbürsten aus Holz und Shampoo.
Als vergangenes Jahr die Weihnachtsmärkte abgesagt wurden, musste Pfitzner sich kurzfristig einen anderen Job suchen. Sie arbeitete dann bei der Post, als Briefzustellerin. Umso glücklicher ist sie, dass sie dieses Jahr wieder hinter ihrem Stand steht – und umso größer ist die Sorge, dass damit schon bald wieder Schluss sein könnte.
"Wenn die Märkte in ein, zwei Wochen wieder abgesagt werden, bin ich pleite", sagt sie. "Dann lande ich auf der Straße." Denn die Produkte, die sie verkaufen möchte, musste sie selbst erst einmal kaufen – oder herstellen.
Normalerweise macht Pfitzner in den 40 Tagen, die der Weihnachtsmarkt am Roten Rathaus geöffnet hat, bis zu 20.000 Euro Umsatz, erzählt sie. Bleibt der weg, steht sie vor dem finanziellen Ruin. "Noch ein Jahr schaffe ich es nicht", sagt sie. DSB-Präsident Albert Ritter fordert daher im Falle einer Schließung deutlich unbürokratischere Hilfen vom Bund, die Schausteller auch privat nutzen dürfen.
Kommen die Kunden auf die Märkte?
Das Problem aber ist: Selbst wenn die Märkte offen blieben, müssten auch die Kunden kommen. Dabei vergeht immer mehr Deutschen offensichtlich die Lust aufs gemütliche Flanieren. Laut einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest im Auftrag des NDR haben sich 53 Prozent der Befragten gegen eine Öffnung der Weihnachtsmärkte ausgesprochen.
Dabei scheint sich die Stimmung gegen den Glühwein und die gebrannten Mandeln zu drehen: Noch vor einem Monat hatten bei einer Forsa-Umfrage im Auftrag des Portals Statista 53 Prozent angegeben, dass sie auf jeden Fall in diesem Jahr einen Weihnachtsmarkt besuchen möchten. Fast jeder Dritte hatte sich zu dem Zeitpunkt bereits von den Märkten verabschiedet.
Auf dem Platz vor dem Berliner Roten Rathaus tummeln sich dennoch viele Menschen. Die Anforderungen sind vergleichsweise gering: Jeder Besucher muss eine Maske tragen, andere Märkte lassen nur geimpfte oder genesene Besucher hinein.
Märkte unter freiem Himmel seien kein Problem, so Verbandschef Ritter. Er behauptet: Die Märkte seien gar die Lösung und nicht das Problem. "Der Weihnachtsmarkt trägt zu Eindämmung der Pandemie bei", sagt er. Denn die Alternative seien private Feiern im heimischen Wohnzimmer – ohne Abstände, ohne Masken, ohne Kontrollen.
"Der Bedarf an sozialem Zusammensein ist riesig"
Bastian Greiner-Bäuerle betreibt einen kleinen Weihnachtsmarkt direkt vor der Nikolaikirche, unweit der Berliner Museumsinsel. Das Konzept: Vorstellungen des Filmklassikers "Feuerzangenbowle", an den drei Ständen gibt es dann Glühwein, Crêpes oder eben das titelgebende Heißgetränk.
"Ich verstehe nicht, warum mit den Weihnachtsmärkten ein Zeichen gesetzt werden soll", so der 47-Jährige. "Wir sind hier an der frischen Luft, die Abstände sind groß genug." Die Menschen ziehe es seiner Meinung nach auf die Märkte. "Der Bedarf an sozialem Zusammensein ist riesig, das spüren wir sehr."
Es bleibe ihm und seinen zehn Mitarbeitern nur – zu hoffen. Auch Susan vom Olivenholzstand sagt: "Wir freuen uns über jeden Tag, den wir hier sein können." Für sie sei der Weihnachtsmarkt eine riesige Familie – "die will ich nicht missen".
- Eigene Recherche und Gespräche vor Ort
- Gespräch mit Albert Ritter