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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studie Berlin trägt relativ wenig zu Deutschlands Reichtum bei
In der Regel ist es in Europa so: Die Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung in der Hauptstadt ist deutlich höher als im restlichen Land. Doch es gibt eine Ausnahme: Deutschland.
Berlin bleibt eine Besonderheit in Europa. Zumindest wenn es um die Wirtschaftsleistung geht. Denn während die Hauptstädte anderer EU-Staaten in erheblichem Maß zum Wohlstand des gesamten Landes beitragen, ist Berlins Zutun verhältnismäßig dürftig.
Gäbe es die Hauptstadt nicht, wäre das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in Deutschland in etwa gleich groß, während es in anderen europäischen Industriestaaten erheblich sinken würde. Das zeigt eine Rechnung des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) auf Basis der jüngsten Statistiken von Eurostat für das Jahr 2017, die t-online.de exklusiv vorliegt.
BIP
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der wichtigste Gradmesser für die wirtschaftliche Leistung eines Staates. Das BIP ist der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen für den Endverbraucher, die innerhalb eines Zeitraums (meist wird ein Jahr betrachtet) in einem Land hergestellt oder angeboten wurden.
Demnach ginge es Europas Wirtschaft ohne ihre Hauptstädte fast durchgängig deutlich schlechter. Egal ob Paris, Kopenhagen oder Prag – in unseren Nachbarländern treiben die Hauptstädte die Wirtschaft erheblich an. Nur Berlin tanzt aus der Reihe: 2017 zog die Hauptstadt Deutschlands BIP pro Kopf um 0,2 Prozent nach unten.
Allerdings: Die jüngsten Zahlen der Statistischen Ämter der Bundesländer zeigen eine Trendwende. Demnach lag das Pro-Kopf-BIP in Berlin 2019 bei knapp 42.000 Euro – und damit leicht über dem bundesweiten Schnitt von 41.400 Euro. Von den Beiträgen anderer EU-Hauptstädte zur Wertschöpfung des gesamten Landes bleibt Berlin aber auch damit noch weit entfernt.
Berlin hatte bis 2020 kein Unternehmen im Dax
Das IW erklärt die vergleichsweise schwache Position Berlins mit der Historie: Deutschland sei föderalistisch organisiert und verfüge daher über viele ökonomisch starke Zentren. Die großen deutschen Konzerne haben ihre Hauptsitze nicht in der Hauptstadt. Stattdessen sitzen sie vor allem in Bayern (etwa Adidas, BMW, Münchner Rück), in Nordrhein-Westfalen (zum Beispiel Bayer, Deutsche Post, RWE) oder Baden-Württemberg (Daimler, SAP, HeidelbergCement).
Bis Juni 2020 war sogar kein einziges Berliner Unternehmen im Deutschen Aktienindex, kurz Dax, gelistet. Dann trat jedoch der Immobilienkonzern Deutsche Wohnen an die Stelle der Lufthansa, nun folgt zudem der Essenslieferdienst Delivery Hero auf den insolventen Zahlungsabwickler Wirecard.
Berlins Schwäche muss kein Nachteil sein
Fraglich ist aber ohnehin, ob eine große Abhängigkeit der Wirtschaftsleistung eines Landes von nur einer Stadt überhaupt erstrebenswert ist. "Mehrere starke wirtschaftliche Zentren sind eigentlich ein wirtschaftlicher Vorteil von Deutschland", sagt IW-Ökonom und Datenalayst Henry Goecke. Das sei wie bei der Geldanlage, wo man schließlich auch nicht alle Eier in ein Nest legen solle.
Spitzenreiter in Sachen Hauptstadt-Abhängigkeit ist Griechenland. Ohne Athen würde die Wirtschaft dort um knapp 19 Prozent schrumpfen. Frankreich wäre ohne Paris fast 16 Prozent ärmer, Dänemarks Wirtschaft wäre ohne Kopenhagen 14 Prozent schwächer.
Da Deutschland zudem den größten Anteil am europäischen Bruttoinlandsprodukt hat, mag Berlin zwar im Vergleich zum Rest des Landes hinterherhinken, im direkten Vergleich mit den anderen Hauptstädten Europas ließ es 2017 aber immerhin einige hinter sich: Rom, Madrid, Prag, Lissabon, Bratislava und Athen.
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Berlin ziehe die deutsche Wirtschaftskraft nach unten. Die Schlussfolgerung beruhte auf den Eurostat-Zahlen von 2017, inzwischen deuten die Zahlen der Statistischen Landesämter aber auf eine Trendwende hin. Der Artikel wurde entsprechend überarbeitet.
- Eigene Recherche
- IW-Auswertung
- Gespräch mit IW-Ökonom Henry Goecke