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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Studie zu "HartzPlus" Verein schafft für 250 Menschen die Hartz-IV-Sanktionen ab
Es ist ein Versuch, den es so noch nicht gab: Ein Verein stellt mit "HartzPlus" 250 Hartz-IV-Empfänger von Sanktionen frei. Was löst es aus, wenn die Angst vor Strafen weg ist?
Mitten in die aufkommende politische Debatte um Hartz-IV-Sanktionen testet ein Verein erstmals wissenschaftlich begleitet und in großem Stil, was ein Wegfall bedeutet: 250 Hartz-IV-Empfänger wird auch dann der volle Satz garantiert, wenn das Jobcenter die Unterstützung teilweise oder komplett kürzt. Das wäre dann eine Form des bedingungslosen Grundeinkommens.
Das Experiment des gemeinnützigen Vereins "Sanktionsfrei" soll Erkenntnis bringen, ob Vertrauen nicht bessere Ergebnisse bringt als Bestrafung. "Der Grundgedanke ist, dass man Menschen nicht mit Druck behandeln muss", sagt Helena Steinhaus, Geschäftsführerin von Sanktionsfrei, t-online.de. "Wir denken, dass Misstrauen demütigt und keine positiven Effekte hat. Der Druck muss weg."
Sanktionen eine "existenzielle Bedrohung"
Fast sechs Millionen Menschen in Deutschland beziehen Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld. Der Regelbedarf liegt derzeit bei 416 Euro. Ein Betrag, der Leistungsempfängern laut Sozialgesetzbuch ein Leben ermöglichen soll, das der "Würde des Menschen entspricht". Durch Sanktionen kann dieses Existenzminimum aber gekürzt werden. Das passiert fast eine Million Mal pro Jahr.
Aus Sicht des Vereins stellt das eine existenzielle Bedrohung für die Menschen dar. Durch Spenden sollen Menschen, die staatliche Unterstützung erhalten, "garantiert und angstfrei abgesichert" sein. Der Verein nennt HartzPlus "Hartz IV plus Vertrauen". Durch Förderer auch aus der Wirtschaft sei gesichert, Kürzungen ausgleichen zu können.
Das Experiment beginnt im Februar 2019 und wird begleitet von Wissenschaftlern um Prof. Rainer Wieland, Wirtschaftspsychologe an der Schumpeter School of Business and Economics der Universität Wuppertal.
Untersucht wird, wie sich die Lebenslage von Hartz-IV-Empfängern verändert, wenn sie bedingungsloses Hartz IV erhalten. Stimmt das Vorurteil, dass Leistungsempfänger sich nicht mehr um einen neuen Job bemühen, wenn es keine Sanktionen gäbe? Oder führt bedingungsloses Hartz IV dazu, dass Menschen körperlich und psychisch gesünder sind, weil sie sich sicherer fühlen, und vielleicht sogar eher in Beschäftigung kommen? Wieland sagte t-online.de im Interview: "Unsicherheit macht Menschen krank und handlungsunfähig". Als Wissenschaftler gehe er an die Studie aber ergebnisoffen heran.
Für Kontrollgruppe bleibt es bei Sanktionen
Die Untersuchung mit der Wuppertaler Hochschule begleitet insgesamt 500 Hartz-IV-Empfänger über einen Zeitraum von drei Jahren. 250 Teilnehmer profitieren von HartzPlus und erhalten finanziellen Ausgleich für anfallende Sanktionen. 250 weitere Teilnehmer sind in der Kontrollgruppe und müssen anfallende Sanktionen weiterhin selbst tragen.
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Steinhaus: "Wir denken, dass wir dann zur nächsten Bundestagswahl wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse für die Abschaffung der Sanktionen vorlegen können." Sie rechnet nicht damit, dass die Politik vorher schon entsprechend handelt und die Studie von der Realität überholt wird.
Das Thema hat aktuell durch Vorstöße von Sozialdemokraten und Grünen Fahrt aufgenommen. Grünen-Chef Robert Habeck hat sich mit einem Papier hervorgewagt, in dem er eine Garantiesicherung ohne Arbeitszwang fordert. Auch SPD-Chefin Andrea Nahles und der für Programmarbeit zuständige SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil haben mehrfach gefordert, es brauche einen neuen Sozialstaat mit einem neuen Menschenbild – aber beide wollen Sanktionen nur reduzieren, nicht komplett abschaffen. Für CDU und CSU kommt das sowieso nicht infrage. Eingeführt wurde Hartz IV zum 1. Januar 2005 unter der rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder (SPD).
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Studienteilnehmer werden noch gesucht
Für die wissenschaftliche Untersuchung werden bundesweit Probanden gesucht. Teilnehmen kann jede Person zwischen 18 und 55 Jahren, die aktuell in Hartz-IV-Bezug ist oder in naher Zukunft möglicherweise Hartz-IV in Anspruch nehmen muss. Die Probanden sollen repräsentativ für die Hartz-IV-Empfänger in Deutschland sein.
Die 500 Teilnehmer werden über ein Losverfahren aus allen Anmeldungen ermittelt, die bis zum 31. Dezember 2018 bei dem Verein eingehen. t-online.de bindet das Anmeldeformular des Vereins an dieser Stelle ein.
Positive Reaktionen in erster Projektphase
Positive Erwartungen hat der Verein nach einer ersten Projektphase, in der er 25 Menschen ein Jahr lang bedingungsloses Hartz IV ermöglicht. Etwaige Sanktionen werden bis zu einer Höhe von 200 Euro monatlich vom Verein ausgeglichen. Nach sieben Monaten waren sechs Teilnehmer sanktioniert worden und Sanktionsfrei hatte zum Ausgleich nur einen kleinen Teil der damals 20.000 Euro im Solidarfonds benötigt. Auch dieses Geld könnte zumindest in Teilen zurückfließen, wenn Gerichte die Sanktionen als nicht berechtigt einstufen, so Steinhaus.
Die Rückmeldungen von Projektteilnehmern seien positiv: 92 Prozent der Teilnehmer geben an, dass sie sich bei Jobcenterbesuchen weniger Sorgen machen. "Wir hören häufiger, dass Menschen sagen, sie können ruhiger schlafen."
Bundesverfassungsgericht entscheidet über Sanktionen
Rund 70 Prozent der Sanktionen werden nach Angaben des Vereins für nicht wahrgenommene Termine verhängt. Die restlichen 30 Prozent verteilen sich auf andere Gründe wie verweigerte Arbeitsaufnahme. Von Sanktionen sind auch Tausende Familien mit Kindern und Alleinerziehende betroffen. Einige davon wurden voll sanktioniert: Sie erhalten gar keine Zahlungen des Jobcenters mehr.
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Am 15. Januar 2019 wird auch das Bundesverfassungsgericht darüber verhandeln, ob die Sanktionen in ihrer Form mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Das Sozialgericht Gotha hat eine Klage eines Hartz-IV-Empfängers an das Bundesverfassungsgericht weitergegeben. Es soll entscheiden, ob die Kürzungen des Existenzminimums mit der Würde des Menschen und dem Recht auf körperliche Unversehrtheit vereinbar sind.
- Eigene Recherche