t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomeWirtschaft & FinanzenAktuellesWirtschaft

Christian Lindner will Sozialleistungen kürzen: Arbeitsagentur kritisiert


Nachrichten
Wir sind t-online

Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

Rechnung geht nicht auf
Arbeitsagentur widerspricht Finanzminister Lindner


Aktualisiert am 13.11.2023Lesedauer: 4 Min.
1648338968Vergrößern des Bildes
Christian Lindner: Der Bundesfinanzminister muss sparen, um die Schuldenbremse einzuhalten. (Quelle: Sean Gallup/getty-images-bilder)
News folgen

"Arbeit muss sich wieder lohnen" lautet eine beliebte Politikerforderung. Auch Christian Lindner will deswegen Sozialleistungen kürzen. Die Bundesagentur für Arbeit hält davon wenig.

Weniger Sozialhilfe bringt mehr Menschen in Arbeit, so die Hoffnung von Bundesfinanzminister Christian Lindner. Deshalb müssten die Sozialleistungen auf den Prüfstand gestellt werden, sagte der FDP-Politiker beim Kongress des Maschinenbauverbandes VDMA am Dienstag.

Was genau er damit meinte, führte er nicht aus. Aber klar ist: Lindner will zum einen sparen und sucht zudem nach Möglichkeiten, den eklatanten Fachkräftemangel zu bekämpfen.

"Ich glaube, wir müssen deshalb unter dem Gesichtspunkt Lohnabstandsgebot und Erwerbsanreiz die Landschaft unserer unterschiedlichen Sozialleistungen prüfen", so Lindner und er liefert auch ein moralisches Argument dazu. "Denn es ist auch eine ethische Frage, dafür zu sorgen, dass in jeder Konstellation diejenige und derjenige, der arbeitet, mehr hat als diejenigen, die nicht arbeiten."

Die Bundesagentur für Arbeit (BA) sieht das gänzlich anders. Auf ihrer Website schreibt sie deutlich: "Arbeiten lohnt sich finanziell immer" und liefert auch gleich eine Beispielrechnung dazu.

Doch wer hat recht – Bundesminister oder Bundesbehörde?

Nahles: Wirtschaft tritt auf der Stelle

Zunächst zu den Zahlen: Die Arbeitslosenquote liegt in Deutschland bei 5,7 Prozent. Im Oktober lag die Zahl von Menschen ohne Job bei 2,607 Millionen und damit um etwa 20.000 Personen niedriger als im Vormonat. Gemessen an den üblichen saisonalen Schwankungen ist das allerdings ein geringer Rückgang.

"Seit gut einem Jahr tritt die deutsche Wirtschaft mehr oder weniger auf der Stelle", sagte die Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur, Andrea Nahles. "Nach so langer Zeit bleibt das nicht ohne sichtbare Folgen für den Arbeitsmarkt. Angesichts der Wirtschaftsdaten behauptet er sich aber vergleichsweise gut", ergänzte die ehemalige Bundesarbeitsministerin.

Auf den ersten Blick müssten die mehr als 2,6 Millionen Menschen also ausreichen, um die etwa 749.000 offenen Stellen, die von der BA gelistet werden, zu besetzen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Es sei schwerer geworden, Menschen und offene Stellen zusammenzubringen. Das liege an mangelnden Qualifikationen, aber auch an fehlender Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten – also bei potenziellen Arbeitnehmern und Arbeitgebern.

Bürgergeld wird deutlich teurer

Fakt ist auch: Seit dem 1. Januar 2023 erhalten Arbeitslose in Deutschland statt Hartz IV das Bürgergeld. Für Alleinstehende beträgt es 502 Euro im Monat, hinzu kommt die Übernahme von Miet- und Heizkosten durch das Amt. Im kommenden Jahr soll der Satz auf 563 Euro angehoben werden. Der Hartz-IV-Satz betrug zuvor 449 Euro.

Doch heißt das im Umkehrschluss nicht automatisch, dass die Höhe der Sozialleistungen dazu führt, dass weniger Menschen arbeiten oder sogar ihre Stellen kündigen. Experten sehen bisher keinen solchen Trend. In den Arbeitslosenstatistiken sei "überhaupt keine Änderung" seit der Einführung des Bürgergelds ersichtlich, sagte Enzo Weber, Ökonom am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, etwa "Zeit online".

Lindners Forderung ist nicht neu

Die Debatte über den Wert von Arbeit und die Forderung "Arbeit muss sich wieder lohnen" ist dabei keinesfalls neu. Lindner greift hier einen beliebten Slogan auf. Von CDU-Kanzler Helmut Kohl über SPDler Kurt Beck bis zum FDP-Minister Guido Westerwelle haben sich auf diese Formel schon Politiker verschiedenster Parteien berufen. Nachdem Heil die Erhöhung des Bürgergelds um mehr als 12 Prozent im August vorgestellt hatte, äußerte sich auch CDU-Chef Friedrich Merz in ähnlicher Manier.

Eine Modellrechnung des Kieler Instituts für Weltwirtschaft goss zudem Öl ins Feuer: Darin kommen die Wissenschaftler zu dem Schluss, dass wer zu Mindestlohnkonditionen arbeitet und kein Wohngeld oder keinen Kinderzuschlag beantragt, als Alleinverdiener unter Umständen weniger Geld zur Verfügung hat als eine Familie mit Bürgergeld. Ein Fall, der zwar nur äußerst selten auftreten dürfte, aber dennoch gerne als Argument genutzt wurde.

Allerdings halten Forscher gleich mehrerer Institute wie dem ifo-Institut dagegen, dass wer entsprechende Sozialleistungen zur Aufstockung oder Kinderzuschläge nutze und zudem in Vollzeit arbeite, immer mehr in der Tasche habe als Bürgergeldempfänger. Gewerkschaften fordern auch mit Verweis auf diese Debatte einen höheren Mindestlohn.

BA-Statistik unterschlägt ganze Gruppen

Ob Lindner also mit den Kürzungen bei Sozialleistungen tatsächlich gleichzeitig die Haushaltslöcher stopfen und das Fachkräfteproblem lösen kann, ist ungewiss – mit Blick auf die ohnehin veranschlagten Zusatzkosten, aber zumindest unwahrscheinlich. Nicht nur die BA, sondern auch verschiedenste Wissenschaftler sehen bislang keine Effekte, die darauf hindeuten, dass Menschen in Deutschland lieber ins Bürgergeld wechseln, als weiter zu arbeiten.

Was bei der Diskussion allerdings ausgespart wird, ist der Fakt, dass die Arbeitslosenstatistik der BA ohnehin nur eine bedingte Aussagekraft hat, denn verschiedene Personengruppen werden darin gar nicht erfasst. Wer sich nicht arbeitssuchend meldet, taucht in der Statistik nicht auf – darunter viele Mütter, die mit den Kindern zu Hause bleiben, teils aber gut ausgebildet sind. Aber auch wer bereits in einer Weiterbildungsmaßnahme der BA steckt, wird nicht mehr gezählt.

Menschen, die von der Statistik gar nicht erfasst werden und somit auch gewisse Leistungen wie etwa das Bürgergeld gar nicht erhalten, werden wohl kaum dadurch motiviert werden, wenn diese Leistungen gekürzt werden. Gleichzeitig schlummert ein enormes Potenzial für den Arbeitsmarkt gerade bei Frauen, die gar nicht oder in Teilzeit arbeiten.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • arbeitsagentur.de: "Einkommen mit Bürgergeld ergänzen"
  • arbeitsagentur.de: "Arbeitslosenquote & Arbeitslosenzahlen 2023"
  • tagesschau.de: "Sehr geringe Herbstbelebung auf dem Arbeitsmarkt"
  • tagesschau.de: "Was die offizielle Statistik verbirgt"
  • zeit.de: "Kein Bock auf Arbeit?" (Bezahlinhalt)
  • zeit.de: "Lohnt sich Arbeit?" (Bezahlinhalt)
  • br.de: "Bürgergeld steigt: Lohnt sich Arbeit jetzt noch?"
  • ifo.de: "ifo Institut schlägt Reform der Einkommensteuer und Grundsicherung für mehr Beschäftigung vor"
  • ifw-kiel.de: "Bürgergeld und Lohnabstandsgebot"
  • Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...



TelekomCo2 Neutrale Website