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Inflation und Energiekrise I Ökonom: "Wir werden zehn Jahre leiden"


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Inflation auf Rekordniveau
Topökonom Fratzscher: "Wir werden zehn Jahre leiden"


28.10.2022Lesedauer: 7 Min.
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Marcel Fratzscher (Archivbild): "Da sind ganz viele Dinge schiefgelaufen."

Die Inflation steigt weiter – auch Menschen aus der Mitte trifft die Krise hart. Der Ökonom Marcel Fratzscher erklärt, was eigentlich geschehen müsste.

Lebensmittel werden teurer, Energiepreise explodieren: Ausgelöst durch Putins Angriffskrieg auf die Ukraine stehen viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland vor extremen finanziellen Herausforderungen.

Was kommt da noch? Der Ökonom Marcel Fratzscher wirft einen düsteren Blick auf die nächsten Jahre. Im Interview mit t-online spricht er darüber, woran es bei den Hilfen des Staates hakt, was in dieser Krise auf dem Spiel steht – und warum es nicht nur die hohen Energiekosten sind, die viele Menschen jetzt so verletzlich machen.

t-online: Herr Fratzscher, mit 10,4 Prozent lag die Inflation auch im Oktober auf Rekordniveau. Besonders schnell steigen die Preise für Energie und Lebensmittel. Steht Deutschland am Beginn einer Armutswelle?

Marcel Fratzscher: Der Begriff ist sicherlich übertrieben. Fest aber steht: Der Anstieg der Armut – ein Trend der vergangenen 20 Jahre – wird sich in dieser Krise vertiefen. Die Inflation ist zutiefst unsozial.

Warum ist das so?

Unsere Studien zeigen: Menschen mit geringen Einkommen sind allein durch die Energiekosten mit einer drei- bis viermal höheren Inflation konfrontiert als Menschen mit hohen Einkommen.

Es gibt also gar nicht die eine Inflation für alle?

Genau. Die Zahlen, die das Statistikamt veröffentlicht, sind Durchschnittsangaben. Persönlich aber betrifft die Inflation jeden in unterschiedlichem Ausmaß. Für ärmere Menschen ist die Inflation viel höher, weil sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für die Dinge ausgeben müssen, die jetzt besonders teuer geworden sind – für Energie und Nahrungsmittel.

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(Quelle: IMAGO/M. Popow)

Marcel Fratzscher

leitet seit 2013 das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin und gilt als einer der einflussreichsten deutschen Volkswirte. Zuvor war er mehr als zehn Jahre für die Europäische Zentralbank (EZB) tätig. Als Makroökonom beschäftigt sich Fratzscher vor allem mit Verteilungsfragen.

Das heißt, Menschen mit wenig Einkommen leiden gerade besonders.

Ja, die hohen Preise belasten diese Menschen stark. Das Besondere in der jetzigen Situation ist aber, wie viele Menschen betroffen sind: Die Krise geht in die Mitte der Gesellschaft hinein.

Lässt sich das in Zahlen ausdrücken?

Die steigenden Preise treffen nicht nur jene, die von relativer Armut betroffen sind, die also weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung haben. Das sind in Deutschland schon rund 17 Prozent der Bevölkerung. Jetzt gerät aber auch eine vierköpfige Familie in Schwierigkeiten, die mit 35.000 Euro Bruttoeinkommen pro Jahr eigentlich zur Mittelschicht gehört. Diese Familie kann mit 2.200 Euro netto im Monat nicht einfach mal 400 oder 500 Euro mehr für ihre Heizkosten, Lebensmittel oder Mobilität bezahlen.

Wie viele Menschen sind das?

Wir sprechen hier von rund 40 Prozent der Bevölkerung. Darunter fallen auch einige mit ganz ordentlichen Einkommen, die die hohen Preise jetzt trotzdem nicht stemmen können.

Warum ist das so?

Einerseits liegt das daran, dass viele Menschen trotz Arbeit nur wenig haben. Hinzu kommt aber ein sehr deutsches Problem: Fast 40 Prozent der Menschen hierzulande haben praktisch keine Ersparnisse.

Was bedeutet das?

Sie können die steigenden Kosten nicht aus ihrem monatlichen Einkommen stemmen, gleichzeitig aber auch nicht auf Rücklagen zurückgreifen. Das ist ein riesiges Problem. In Deutschland haben sich viele auf den Sozialstaat verlassen, der jetzt in dieser Krise nicht ausreichend liefert.

Was kommt da noch auf uns zu?

Ich sage es mal zugespitzt: Wir werden zehn Jahre unter dieser Krise leiden. Denn wir sind noch nicht am Ende der Fahnenstange. Für dieses Jahr erwarten wir eine Inflationsrate von durchschnittlich neun Prozent, im nächsten Jahr von sieben oder acht Prozent. Die Löhne steigen aber voraussichtlich weit weniger. Die Folge: In den nächsten anderthalb Jahren wird es für die Menschen weiter schlimmer werden, weil ihre Kaufkraft immer weiter sinkt.

Das klingt düster.

Wir können hoffen, dass im Jahr 2024 – wenn die Inflation wieder sinkt – sich die Lohnsteigerungen und die Inflation in etwa auf einer Höhe befinden. Das bedeutet dann zunächst allerdings lediglich Stillstand.


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Durch die Energiekrise gibt es einen langanhaltenden Schaden – nicht nur für wenige, sondern für sehr viele Menschen.


Marcel Fratzscher


Warum?

Zuerst müssen dann über mehrere Jahre die Löhne mehr steigen als die Preise. Nur dann erlangen die Menschen überhaupt wieder die Kaufkraft, die sie zuvor hatten.

Das wird extrem lange dauern – auch weil die Menschen, die jetzt ihr Erspartes verbrauchen oder sich sogar verschulden, ihre Ersparnisse erst wieder aufbauen oder sogar Schulden abbauen müssen. Deshalb ist ein Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren realistisch. Durch die Energiekrise gibt es einen langanhaltenden Schaden – nicht nur für wenige, sondern für sehr viele Menschen.

Ist die falsche Energiepolitik der vergangenen Jahre schuld an der verfahrenen Situation, in der wir uns jetzt befinden?

Dort liegt sicherlich ein Fehler: Dass wir uns darauf verlassen haben, dass billiges Gas schon kommen wird.

Und wo noch?

In der Wohnungsbaupolitik der vergangenen Jahre ist einiges falsch gelaufen. Die Kosten für die Mieten sind in den letzten zehn Jahren zum Teil deutlich stärker gestiegen als die Löhne. Zahlreiche Menschen müssen jetzt also nicht nur mehr für Energie ausgeben, sondern hatten in den vergangenen Jahren auch massive Anstiege ihrer Wohnkosten.

Hinzu kommt: Es gibt in Deutschland vergleichsweise viele Menschen, die nur wenig Geld verdienen – weil sie etwa Teilzeit arbeiten oder als Minijobber – das ist nun ein Problem, weil sie keine Rücklagen bilden konnten.

Doch auch bei denjenigen, die Geld auf die Seite legen können, gibt es ein Problem: Die Deutschen sparen schlecht, nämlich häufig in der Form von Lebensversicherungen oder sie geben Geld auf ein Sparkonto – investieren aber nicht in Immobilien oder in Aktien. Wenn das mehr der Fall wäre, hätten viele Deutsche sogar profitiert vom Anstieg der Immobilienpreise der vergangenen Jahre.

Das heißt?

Da sind ganz viele Dinge schiefgelaufen, die dazu führen, dass die Menschen heute eine solch hohe Belastung haben und in der jetzigen Situation extrem verletzlich sind.

In der aktuellen Krise: Hat die Regierung da auch versagt?

Ja, der Sozialstaat versagt in einem gewissen Maße. Das liegt aber nicht daran, dass er nicht genug tut – er tut sogar sehr viel. Die Bundesregierung hat in diesem Jahr bislang 190 Milliarden Euro an Entlastungspaketen aufgelegt. Mit annähernd fünf Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung ist das mehr, als fast jedes andere Land in Europa gemacht hat.

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Woran liegt es dann?

Deutschland bekommt die Entlastungen nicht zielgenau hin. Das heißt: Die Hilfen kommen nicht ausreichend bei den Menschen an, die diese wirklich benötigen. Kurz gesagt: Der Staat tut viel, aber nicht gut genug.

Woran machen Sie das fest?

Das beste Beispiel ist der Tankrabatt, der Geld von unten nach oben umverteilt hat. Die Menschen, die wenig haben, haben oft auch kein Auto. Somit hat ihnen diese Maßnahme nichts gebracht.

Viele Menschen setzen ihre Hoffnungen auf den Gaspreisdeckel, der nun kommen soll.

Auch dieser ist ein Beispiel dafür, wie die Krise auf dem Rücken der Menschen, die wenig haben, ausgetragen wird. Denn: Das Geld wird per Gießkanne verteilt. Das heißt, Menschen mit einer großen Wohnung mit hohem Gasverbrauch bekommen in Euro viel mehr bezahlt als Menschen, die in einer kleinen Wohnung leben und weniger verbrauchen.

Warum sehen die Pläne für den Gaspreisdeckel dann genau so aus – waren die vielen Expertinnen und Experten, die diesen erarbeitet haben, nicht klug genug?

Nein. Unsere Achillesverse ist der Sozialstaat, der so schlecht verwaltet ist, dass er nicht schnell und zielgenau agieren kann. Ich verstehe, dass es unter diesen Bedingungen nicht möglich ist, den Gaspreisdeckel einkommens- und bedarfsabhängig auszugestalten – was der beste Weg wäre, um zielgenau zu entlasten und gleichzeitig die richtigen Menschen dazu zu bewegen, Gas einzusparen.

Ist die ganze Maßnahme ein Fehler?

Es ist besser, 90 Milliarden Euro auszugeben, wovon dann auch ein paar Milliarden bei den wirklich Bedürftigen ankommen, als es gar nicht zu machen. Trotzdem gibt es mehrere Punkte, die ich anders machen würde.

Nämlich?

Mein erster Kritikpunkt ist: Der Gaspreisdeckel gilt sowohl für die Bürger als auch für die Unternehmen. Das müsste man trennen. Für die privaten Haushalte sollte der Deckel nach dem vorherigen Verbrauch gelten. Aber bei den Unternehmen sollten Einsparziele festgesetzt werden – man müsste diese also verstärkt zum Energiesparen zwingen.

Das wäre aber hart für viele Unternehmen, die durch die Corona-Auswirkungen schon gelitten haben.

Man müsste sie natürlich kompensieren, wie das auch in der Pandemie geschehen ist.

Wo sehen Sie außerdem noch Nachbesserungsbedarf?

Menschen mit geringen und mittleren Einkommen müssten zusätzlich mit direkten finanziellen Transfers entlastet werden. Auch bei der Grundsicherung müsste deutlich nachgebessert werden.

Aber das Bürgergeld steigt doch im Januar von 449 auf 502 Euro – eine Erhöhung um rund zehn Prozent. Das gleicht die Inflation ziemlich genau aus. Warum reicht das nicht?

Auch hier gilt: Die Menschen, die wenig haben, geben deutlich mehr für etwa Lebensmittel aus – also Dinge, die besonders teuer sind. Sie haben also individuell eine deutlich höhere Inflation.

Oberste Kämpferin gegen die Inflation ist eigentlich die Europäische Zentralbank. Sie hat am Donnerstag abermals die Zinsen erhöht. Wann wird sich das auf die Preise auswirken, die Inflation endlich sinken?

Die Zinsen werden in den nächsten eineinhalb Jahren so gut wie keinen Einfluss auf die Inflation haben. 70 bis 80 Prozent der Inflation sind importiert, und zwar über höhere Energiekosten. Darauf hat die EZB so gut wie keinen Einfluss.

Das heißt, es gibt keinen Grund zur Entwarnung?

Nein. Auch im kommenden Jahr wird die Inflation von sieben oder acht Prozent über die hohen Energiepreise getrieben – und nicht über zu hohe Nachfrage für Waren und Produkte. Die Menschen fahren ihren Konsum schließlich schon jetzt zurück.

Tatsächlich? Manche sagen: Wir sparen nicht genug ein. Und die Bundesregierung konterkariert mit ihren vielen Hilfen und Entlastungen die Geldpolitik der EZB sogar noch.

Das ist Quatsch – ein völlig naiver Glaube. Denn das würde bedeuten: Um die hohen Energiepreise zu kompensieren, müssten die Preise für die Dinge, die wir hierzulande produzieren, um 10 oder 20 Prozent fallen. Wie soll das gehen? Die Unternehmen müssten die Löhne kürzen – alle müssten den Gürtel noch enger schnallen. Dann hätten wir eine noch viel tiefere Rezession, als wir sie sowieso schon erwarten. Das wiederum dürfte die sozialen Spannungen noch einmal verschärfen.

Vor einer solchen verschärften sozialen Polarisierung warnen Sie seit Beginn der Energiekrise. Warum wäre das so schlimm?

Unser Wirtschaftsmodell funktioniert nur, wenn es einen sozialen Ausgleich gibt – wenn der Kuchen in der Wahrnehmung der meisten Menschen im Land fair verteilt wird. Doch das ist immer weniger der Fall.

Das bedeutet?

Das kann zu stärkeren politischen Konflikten und einer Aushöhlung der Demokratie führen. Gleichzeitig ist es so: Die Transformationen hin zu Klimaneutralität, technologischem Wandel und Digitalisierung erfordern eine große Anpassung der Menschen. Wenn es uns nicht gelingt, die soziale Akzeptanz für diese Transformationen herzustellen, werden diese scheitern.

Herr Fratzscher, vielen Dank für dieses Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marcel Fratzscher in Berlin
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