Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kalte Progression Gute Arbeit, Herr Minister!
Finanzminister Lindner will die "kalte Progression" aufhalten. Mit dem aktuellen Steuerpaket dürfte ihm das gelingen.
Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine Gehaltserhöhung. Nehmen wir an – um einem einfachen Beispiel des Lohnsteuerhilfevereins zu folgen – Ihr Bruttogehalt als Single steigt um drei Prozent von zuletzt 3.500 Euro im Monat auf nunmehr 3.605 Euro.
Das ist ja gar nichts, sagen Sie? Mag sein. Doch es wird noch weniger, zumindest auf der Nettoseite: Denn durch das höhere Einkommen wächst auch Ihre Steuer- und Abgabenlast. Ohne Abzug der Kirchensteuer blieben Ihnen von der Summe gerade einmal 54,16 Euro übrig – ein Netto-Plus von dann nur noch 2,35 Prozent. Der Rest ginge ans Finanzamt.
Zugleich, und das ist aktuell wichtiger denn je, wird alles teurer. Die Inflation, die mit 7,5 Prozent so hoch ist wie seit fast 50 Jahren nicht mehr, frisst Ihren Mini-Lohnzuwachs also komplett auf, übersteigt ihn prozentual sogar noch. So landet am Ende zwar "nominal" mehr Geld auf Ihrem Konto. Von dem aber können Sie sich "real" weniger kaufen. Trotz Gehaltserhöhung sind Sie ärmer als zuvor.
Die ungerechte "kalte Progression"
Zugegeben, in Zeiten wie diesen ist es vor allem die Teuerung, die für diesen Effekt sorgt. Und doch verstärkt der Staat diese Entwicklung durch den Steuertarif, der größere Einkommen prozentual stärker besteuert als kleinere.
Man spricht von der "kalten Progression": einem Umstand, in dem der Staat von der Inflation und damit verbundenen Lohnsteigerungen profitiert. Weil er – ohne die Steuern zu erhöhen – mehr Geld von seinen Bürgern einnimmt und diese sich vom Nettorest weniger kaufen können. Mehr zur "kalten Progression" lesen Sie hier.
Eine Ungerechtigkeit, finden Sie? Ist es auch.
Diese Entlastungen sind kein Geschenk
Genau deshalb ist das Vorhaben von Finanzminister Christian Lindner (FDP) nur fair. Mit seinem jetzt präsentierten "Inflationsausgleichsgesetz" will er dafür sorgen, dass die Deutschen ab dem kommenden Jahr deutlich weniger Steuern an den Fiskus abdrücken müssen. Um mehr als zehn Milliarden Euro werden die Steuerzahler im kommenden Jahr entlastet.
Das ist keine gönnerhafte Geste. Brüsten mit einem "Steuergeschenk" kann sich Lindner in diesem Fall nicht. Genau genommen nämlich senkt er die Steuern nicht, er verhindert bloß, dass die Last für die Deutschen weiter ansteigt.
Das wiederum ist angesichts der heftigen Sprünge bei den Verbraucherpreisen auch dringend geboten. Niemand hat Verständnis dafür, dass er im Falle einer Lohnerhöhung zusätzlich zu den steigenden Lebenshaltungskosten auch noch mehr ans Finanzamt überweisen soll. Alle brauchen dieser Tage Ent- und nicht zusätzliche Belastungen.
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Ärmere profitieren stärker als Reiche
Besonders gilt das für jene Menschen, die ohnehin wenig haben – und die jetzt klagen: "Die Reichen haben aber von den Steuerplänen des Ministers doch viel mehr, typisch FDP!" Das jedoch ist nicht ganz richtig.
Zwar stimmt, dass Menschen, die so wenig verdienen, dass sie gar keine Steuern zahlen, von dem Gesetz überhaupt nichts haben. Auch ist korrekt, dass die Steuerersparnis für Reiche in absoluten Beträgen größer ausfällt als für Ärmere.
Aber erstens leiden jene, die gar keine Steuern zahlen, auch nicht unter der kalten Progression, sondern brauchen eher andere Entlastungen wie etwa gezielte staatliche Zuwendungen. Und zweitens zählt in der Frage, wer wie stark profitiert, weniger die absolute Summe als vielmehr die prozentuale Ersparnis – bei der Steuerzahler mit kleinen Einkommen deutlich stärker entlastet würden als große.
Die Entlastungen sind gerecht verteilt
Das liegt vor allem daran, dass Lindner den Grundfreibetrag anheben möchte, das Einkommen also, bis zu dem gar keine Steuern anfallen. Künftig will er diesen sogar an die Inflation koppeln, was ein durchaus bemerkenswerter Schritt wäre und eine schlaue Idee, weil so ein Anti-kalte-Progression-Automatismus entstünde.
Zudem passt Lindner anders als sein Vorgänger im Finanzministerium, der heutige SPD-Kanzler Olaf Scholz, nicht auch die sogenannte Reichensteuer an. Hier soll der Eckwert, ab dem sie fällig wird, nicht steigen.
Bei aller berechtigter Kritik an Lindners jüngsten Äußerungen zu anderen Themen, etwa zum 9-Euro-Ticket, lässt sich in der Summe sagen: Hier hat der Finanzminister gute Arbeit geleistet. Diese Steuerentlastungen haben Hand und Fuß, sie sind ökonomisch sinnvoll und – so seltsam das für viele mit Beißreflex klingen mag – auch gerecht.