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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Streit um Bürgergeld-Erhöhung Lohnt sich arbeiten überhaupt noch?
12 Prozent mehr beim Bürgergeld: Angesichts des Haushaltslochs fordern CDU und FDP einen Stopp für die Anhebung. Wie realistisch ist das?
Der Streit ums Bürgergeld reißt nicht ab. Die Opposition kritisiert dessen Erhöhung zum 1. Januar: Dadurch komme die Höhe von Sozialleistungen den Lohnsätzen von Geringverdienern zu nahe – das Lohnabstandsgebot werde also nicht eingehalten. Gleichzeitig pocht Sozialminister Hubertus Heil (SPD) auf deren Umsetzung und auf Respekt vor den Beziehern der staatlichen Leistung.
Wo verlaufen die Fronten – und ließe sich die Erhöhung noch stoppen, wie es FDP und CDU fordern? t-online beantwortet die fünf wichtigsten Fragen:
Wieso regen sich gerade so viele über das Bürgergeld auf?
Weil seit der Entscheidung der Karlsruher Verfassungsrichter ein Milliardenloch im Haushalt klafft und die Bundesregierung sparen muss, will sie 2024 nicht erneut die Schuldenbremse aussetzen.
Nicht nur die Opposition mit Unionsfraktionschef Friedrich Merz an der Spitze fordert deshalb, die im Oktober beschlossene Erhöhung der Bürgergeldsätze noch einmal zu überprüfen. Auch aus den eigenen Ampelreihen ist derlei zu hören. So forderte unlängst etwa FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai in der "Bild am Sonntag": "Die geplante Anhebung des Bürgergelds muss gestoppt werden."
Zudem ärgern sich viele – sowohl in der Politik als auch in der Bevölkerung – weiter darüber, was schon bei der Verabschiedung der Bürgergelderhöhung vor wenigen Monaten für Unmut sorgte: Das Plus bei den Regelsätzen zum 1. Januar fällt mit rund 12 Prozent deutlich höher aus als bei fast allen Gehaltserhöhungen (siehe unten). CDU-Chef Merz beklagte deshalb zuletzt immer wieder das schlechte Signal, das ihm zufolge von der Erhöhung ausgehe: Arbeit lohne sich nicht mehr. Die Bundesregierung solle die geplante Anpassung deshalb zurücknehmen. Sozialminister Hubertus Heil (SPD) hält dagegen. Am Montag stellte er klar, es gebe keinerlei Überlegungen, an der geplanten Bürgergelderhöhung noch zu rütteln.
Wie viel Bürgergeld gibt es – und wer bekommt es?
Die geforderte Rücknahme der Erhöhung beträfe derzeit rund fünf Millionen Menschen in Deutschland. Viele Bürgergeldempfänger sind Langzeitarbeitslose, die früher Arbeitslosengeld II (Hartz IV) erhalten haben. Zu ihnen zählen aber auch rund eine Million ukrainischer Flüchtlinge, die anders als Asylbewerber aus anderen Staaten bei ihrer Ankunft in Deutschland sofort Bürgergeld bekommen.
Die Idee des Bürgergelds: Wer grundsätzlich arbeiten kann, "erwerbsfähig" ist, aber sein Existenzminimum nicht durch eigenes Einkommen oder Vermögen bestreiten kann, soll vom Staat unterstützt werden – bestenfalls vorübergehend, notfalls auch dauerhaft. Bürgergeldempfänger müssen mit dem Regelsatz tägliche Ausgaben wie den Supermarkteinkauf, aber auch die Kosten für Kleidung, Möbel und Strom tragen. Darüber hinaus zahlt ihnen das Jobcenter auch die Miete, Heizkosten und Warmwasser, ebenso die Beiträge für die Kranken- und Pflegeversicherung.
Derzeit beträgt der Regelsatz für einen alleinstehenden Erwachsenen 502 Euro pro Monat. Beziehen zwei Partner, die zusammenleben, Bürgergeld, erhält jeder einen reduzierten Satz in Höhe von 451 Euro. Für Kinder gibt es je nach Alter unterschiedliche Sätze zwischen 318 Euro und bis zu 420 Euro.
Warum sollen die Bezüge jetzt so stark steigen?
Ab dem 1. Januar sollen diese Beträge auf dann 563 Euro (Single), 506 Euro (einzelner Partner) und bis zu 471 Euro (Kind) steigen. Das entspricht einem Plus von 12 Prozent.
Hintergrund für diese Anpassung ist die hohe Inflation – sowie eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts: Der zufolge nämlich muss der Staat für Bedürftige jederzeit das Existenzminimum sichern.
"Die Ampelregierung hat daraus abgeleitet, die Regelsätze an die Inflation zu koppeln", erklärt der Arbeitsmarktökonom Holger Schäfer vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) im Gespräch mit t-online. Das sei durchaus sinnvoll, so lasse sich tatsächlich das Existenzminimum sichern, so Schäfer, aber: "Bei der genauen Berechnung des Plus hat sie einen sehr großen Rahmen gewählt. Das hätte Herr Heil auch anders machen können."
Was er damit konkret meint: Bei der geplanten Anhebung der Sätze handelt es sich um eine Art doppeltes Inflationsplus. Die 12 Prozent setzen sich nämlich einerseits aus der Jahresinflation zusammen, die – gemessen an einem speziellen Mischindex – die Preisentwicklung von Juli 2022 bis Juni 2023 mit der des Vorjahreszeitraums vergleicht. Andererseits enthält sie auch eine Komponente, die die Inflation der Monate April bis Juni 2023 mit der Teuerung von April bis Juni 2022 in Relation setzt.
"Dadurch wollte die Ampel der derzeit hohen Inflation Rechnung tragen und antizipieren, dass die Preise auch kommendes Jahr womöglich in einem ähnlichen Rahmen weiter steigen dürften", so Schäfer. "Ohne diesen zweiten Schritt wäre das Plus vermutlich nur halb so hoch ausgefallen, dann wäre es eine rein nachträgliche Anpassung, so wie es bei Hartz IV früher auch war."
Lohnt sich arbeiten damit überhaupt noch?
An dieser Frage scheiden sich die Geister. Das liegt vor allem daran, dass jeder Mensch unterschiedlich bewertet, wie viel Geld extra Anreiz genug ist, um arbeiten zu gehen. Immer wieder kursierten in den vergangenen Tagen Beispielrechnungen, nach denen gerade Geringverdiener teilweise über weniger Geld verfügten als Bürgergeldempfänger.
IW-Experte Schäfer hält von solchen Kalkulationen wenig, da sie oft genug unterschlagen, dass auch Menschen mit geringen Löhnen zusätzliche Leistungen vom Staat erhalten, etwa Wohngeld beantragen könnten. Er sagt: "Ja, arbeiten lohnt sich auch nach der Bürgergeld-Erhöhung finanziell immer noch – aber eben nicht immer besonders viel. Das Lohnabstandsgebot gilt weiter, nur ist der Abstand etwas kleiner geworden, weil das Bürgergeld stärker wächst als die niedrigsten Löhne. Dass viele da ein Störgefühl haben, ist verständlich." Die Bundesagentur für Arbeit hält daran fest, dass sich Arbeiten auch finanziell immer lohnt (mehr dazu lesen Sie hier).
Schlechte Anreize für Teilzeit-Jobber
Daneben gebe es aber eine Reihe weiterer Kritikpunkte am Bürgergeld und seiner Erhöhung. Dabei gehe es aber weniger um Menschen, die womöglich ihre Arbeit aufgeben könnten, um stattdessen Bürgergeld zu beziehen. Wichtiger sei die Betrachtung derer, die aktuell Bürgergeld empfangen und die nur sehr geringe Anreize hätten, mehr als nur in Teilzeit zu arbeiten.
Der Ökonom rechnet vor: "Wer arbeitslos ist, Bürgergeld empfängt und dann eine 10-Stunden-Teilzeitbeschäftigung bei Mindestlohn aufnimmt, hat je geleisteter Arbeitsstunde 4,25 Euro mehr in der Tasche als ohne diesen Job. Bei einer 20-Stunden-Woche sind es immerhin noch 3,94 Euro mehr je Stunde. Bei einer regulären 38-Stunden-Woche schmilzt das Plus pro Stunde auf 2,58 Euro."
Noch schlechter sehe es aus für eine Person, die bereits in Teilzeit 10 Stunden pro Woche arbeitet und nebenbei Geld aus der staatlichen Stütze erhält: Für sie steigt das verfügbare Einkommen nur noch um 1,99 Euro je zusätzlich gearbeiteter Stunde. "Hier setzt das Bürgergeld tatsächlich falsche Anreize", so Schäfer.
Ließe sich die geplante Erhöhung noch stoppen?
Wohl kaum, zumindest nicht zum 1. Januar. So verweist das Bundesarbeitsministerium zwar darauf, dass die Umsetzung der Erhöhung noch vom endgültigen Haushalt 2024 abhängt, über den zurzeit Kanzler Olaf Scholz (SPD), Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Finanzminister Christian Lindner (FDP) beraten. Allerdings habe das Ministerium die Bundesagentur für Arbeit und die Jobcenter bereits Ende September nach der Verabschiedung der Erhöhung im Bundestag über die geplante Anpassung informiert, damit alle Akteure frühzeitig planen könnten.
Heißt also: Rein praktisch halten im von Hubertus Heil geführten Haus alle an der grundsätzlichen Erhöhung fest. Ein Ministeriumssprecher ergänzte auf Anfrage von t-online: "Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales verfolgt keine entsprechenden Pläne, die gesetzlich vorgeschriebene Anpassung des Regelsatzes zum 1. Januar 2024 nicht vorzunehmen." Heil selbst sagte zu den Forderungen, es sei "moralisch unverantwortlich und mit der Verfassung nicht vereinbar", den Betroffenen eine Anpassung der Regelsätze zu verwehren.
Rein theoretisch jedoch ließe sich die Erhöhung durchaus zurücknehmen, vielleicht auch nur in Teilen und mit etwas Zeitverzug. So ließe sich etwa ein neues Gesetz formulieren, dass das für die geplante Erhöhung überschreiben könnte. Problem dabei: Solch ein Verfahren dauert, über einen gewissen Zeitraum bekämen die Bezieher vermutlich die nun beschlossene Erhöhung um 12 Prozent – und müssten womöglich später auf einen Teil dieses Geldes verzichten. Das wiederum ist politisch kaum vermittelbar, Riesenärger nicht nur seitens der Sozialverbände wäre die Folge, weshalb ein solcher Schritt eher unwahrscheinlich ist.
- Eigene Recherche
- Telefonat mit Holger Schäfer
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa