Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Grünes Wahlkampf-Video Auch das musste ja schiefgehen
Die Grünen haben einen Wahlkampfspot veröffentlicht. In den sozialen Netzwerken tobt die Häme. Völlig überzogen – und doch menschlich. Ein Fluchtreflex in erschütternden Zeiten.
An einem Tag im Jahr, Sie können Ihr Hab und Gut drauf verwetten, sehen Sie mich weinen. So gut immer rund um Weihnachten bringt irgendein Sender gottlob "Sissi". Ich kann die Filme inzwischen auswendig mitsprechen, und trotzdem haut es mich in der Schlussszene im dritten Teil jedes Mal aufs Neue weg. Kenner wissen, was ich meine.
In dieser Szene laufen Kaiserin Sissi und ihr Gatte Franz einen langen, langen roten Teppich entlang über den Markusplatz in Venedig, vorbei an einer eisig schweigenden Menge. Die Italiener mögen das Kaiserpaar nicht. Man hört nur die Schritte der beiden, man blickt aus ihrer Perspektive auf einen nicht enden wollenden Weg – und erkennt dann in der Ferne, auf dem Teppich, ein sehr kleines Mädchen in weißem Kleid.
Die Kamera zeigt wieder Romy Schneider und Karl-Heinz Böhm. Sie stockt und sagt: "Da ist ja unser Kind!", und er antwortet milde lächelnd: "Und das ist MEINE Überraschung." Romy Schneider läuft los. Mutter und Tochter haben sich lange nicht gesehen, denn Sissi hat gerade eine schwere Lungenkrankheit auf den griechischen Inseln auskuriert.
Bei ihrem Kind angekommen, sinkt die Kaiserin in die Knie, drückt ihr Liebstes an sich und sagt: "Dass ich dich wiederhab!" Nicht nur ich schmelze spätestens in diesem Moment vor dem Fernseher dahin: Die Menschen auf dem Markusplatz tauen auf, es schwillt ein immer lauterer Chor von "Viva la mamma!"-Rufern an.
Geben Sie mir einen Moment, ich muss mich kurz sammeln. Diese Szene ist einfach zu schön.
Eines der schönsten Abendlieder, die ich kenne
Ja, mit so etwas kriegt man mich, da bin ich einfach gestrickt. Und so kann ich die Häme und den Spott über den neuen Wahlwerbespot der Grünen überhaupt nicht nachvollziehen, schon allein weil ihm die Melodie von "Kein schöner Land" zugrunde liegt. Eines der schönsten Abendlieder, die ich kenne. Eines der schönsten Abendlieder, die ich kenne, das ich einem kleinen Menschen, den ich sehr lieb habe, oft vorsinge.
In einer einmütigen, textlich stark abgewandelten Version singen da Menschen einzelne Versatzstücke auf diese zarte Melodie. Eine Frau in den Vierzigern sitzt in einem Garten, eine ältere Dame mit Tablet in der Hand in ihrem Wohnzimmer, ein Man of Colour steht in einer Tischlerei an einer Säge.
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Man sieht in Anspielung auf die "Fridays for Future"-Bewegung junge Demonstranten, man sieht eine Biene, man sieht einen Priester. Sie und andere besingen das Klima, das Artensterben. Es geht um Mobilität, um Digitalisierung. Man sieht auch ein, zwei Promis, eine davon ist die Köchin Sarah Wiener. Die sollte nicht ins Gesangsfach wechseln, davon zeugt ihr Auftritt. Kaum jemand in dem Spot sollte das.
Es lief schon zu viel schief
Klug deshalb die Entscheidung von Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock, die am Ende des kurzen Videos auch erscheint, aufs Singen zu verzichten und lieber zu sprechen. Es lief schon zu viel schief in diesem Wahlkampf, da muss sie nicht auch noch schief singen.
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politik-Berichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie bereits Zehntausende Fans hat. In ihrer Kolumne auf t-online filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet.
Ihr neues Buch "Die Shitstorm-Republik" ist jetzt überall erhältlich.
Das Netz erbricht sich kollektiv im Strahl, mal wieder. Liest man die Kommentare in den sozialen Medien, bevor man sich den Spot ansieht, so muss man vom Schlimmsten ausgehen. Vom Allerschlimmsten, das man je gesehen hat; egal wie alt man ist und auch völlig egal, wieviel Trash TV man in seinem Leben bereits konsumiert hat. "Sommerhaus der Stars", Las-Vegas-Shows von Siegfried und Roy oder auch Rosamunde Pilcher-Verfilmungen – Hochkultur verglichen mit dem Kompostmüll, den die Grünen da fabriziert haben.
Abgesehen davon, dass er wirklich nicht so schlimm ist, egal ob man den Spot nun mag oder nicht: Diese Reaktionen sind eine typische Begleiterscheinung dieses Wahlkampfs. Sie sind ein digitaler Fluchtreflex.
Wir suchen Ablenkung von den Katastrophen um uns herum
Wir fliehen vor unserer eigenen Ohnmacht. Corona? Will nicht enden, viele Eltern sorgen sich um ihre Kinder. Hochwasser? Das ohnehin angeknackste Ur-Vertrauen in die Politik zusätzlich erschüttert. Afghanistan? Bilder von Babys, die über Zäune gereicht werden, zerreißen uns das Herz.
Wir suchen uns Ablenkung, um uns nicht zu intensiv mit diesen Fragen beschäftigen zu müssen. Denn wir ahnen, dass etwas passieren könnte, das in unserer Gesellschaft keinen Platz hat: dass wir einräumen müssten, Angst zu haben. Oder keine Lösung. Oder vielleicht auch einfach mal keine Ahnung.
So wie die meisten von uns nicht großartig singen können, sind wir alle auch nicht Virologen, Afghanistan-Experten oder Fachleute für Katastrophenschutz. Und vor allem ist niemand all dies gleichzeitig.
Wir haben alle in der Hand, worüber wir reden
Paradoxerweise ist ein beliebtes Thema, auf das dann viele in den sozialen Medien gemeinsam ausweichen, dies: Wehklagen darüber, wie banal dieser Wahlkampf doch ist. Daran aber haben diejenigen, die lieber über schiefes Singen oder einen Versprecher von CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet schreiben ("Landshut" statt "Mogadischu") statt über die Rentenkonzepte der Parteien, jedoch einen großen Anteil.
Auch die Menschen, die bei Facebook, Twitter und Instagram schreiben, sind das Volk, auch sie bestimmen die Themen. Wir alle haben auch in der Hand, worüber wir reden.
Eins muss ich aber noch zum Grünen-Spot anmerken: In einem Punkt teile ich die Aufregung. Der Spot ist untertitelt, und an einer Stelle steht zu lesen: "Es gibt so viel, dass uns vereint." Dass. Mit zwei S. Es macht mich wahnsinnig. Auch da bin ich einfach gestrickt.
Andererseits – ich liebe Berechenbarkeit. Und berechenbar, das sind die Grünen, das beweist dieses überflüssige S. Das nämlich ist keine Geschmackssache, sondern das ist ein vermeidbarer Fehler. Wie so vieles in dieser Wahlkampagne.