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Gregor Gysi enttäuscht: Rede im Bundestag bleibt weit unter Erwartungen


Gregor Gysi enttäuscht
Und plötzlich wurde der Rhetorik-Riese ganz klein

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

26.03.2025Lesedauer: 5 Min.
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Gregor Gysi: Die Erwartungshaltung war hoch, die Rede jedoch enttäuschend wie ein Tischfeuerwerk. (Quelle: IMAGO/Mike Schmidt/imago)
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Die Erwartungen an Gregor Gysis Rede im Bundestag waren hoch. Schließlich ist der Alterspräsident ein rhetorisches Naturtalent. Es kam aber zu einer Überraschung, findet unsere Kolumnistin Nicole Diekmann.

Es gibt Menschen, die verfügen in etwa über das rhetorische Talent eines trockenen Brötchens. Das ist gar nicht weiter schlimm; stille Wasser sind tatsächlich oft tief. Und es gibt kaum etwas Angenehmeres als Leute, die um die eigenen Schwächen, aber auch um die eigenen Stärken wissen und sich entsprechend fokussieren. Dann gibt es Menschen, die sogenannte One Liner bestens beherrschen: sehr kurze und deshalb treffsichere Äußerungen. Das ist durchaus möglich: Regelrechte Feuerwerke werden da mithilfe von sagen wir mal 280 Zeichen gezündet in den sozialen Netzwerken. Und dementsprechend bejubelt, sprich: Mit Likes belohnt. Aber wer im Netz ein Riese ist, verzwergt gar nicht mal so selten beim Versuch am längeren Format.

Nicole Diekmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz". Mehr

Mit großer Bestürzung musste ich das vor einigen Jahren beim Lesen des Debütromans einer jungen Frau erkennen, die sich als sogenanntes Netzphänomen einen großen Namen zu Recht verdient hatte. Wer super beobachtet, sehr präzise und treffend formuliert, ist nicht automatisch in der Lage, einen Spannungsbogen auch über eine längere Distanz glücklich zu konstruieren, stand da zwischen den Zeilen ihres Buches.

Ein Ruf, der ihm vorauseilt

Und es gibt Menschen wie Gregor Gysi. Politisch ist der ehemalige SEDler äußerst umstritten. In einem sind sich Gegner wie Anhänger aber einig: Gysi ist rhetorisch brillant. Die Mischung, die Gysi nicht nur zur Galionsfigur der Linken, sondern auch zum regelmäßigen Talkshowgast macht, ist selten: im Kopf schnell, im Gefühl für Humor und Timing treffsicher, weitestgehend angstfrei, was Provokation und Reibung, aber auch Witze auf eigene Kosten angeht und, auch das gehört dazu, erkennbar interessiert an Beifall – das ist Gregor Gysi. Eine Mischung, die seine öffentlichen Auftritte – völlig unabhängig von der politischen Bewertung seines Wirkens – seit Jahren zuverlässig gelingen lässt. Gysi schafft es, pointiert zu unterhalten und zum Denken anzuregen. Und das sowohl auf der Lang- als auch auf der Kurzstrecke: Gysi ist eine Bank. Das ist der Ruf, der ihm vorauseilt.

Entsprechend hoch waren die Erwartungen an seine Rede als Alterspräsident zur Konstituierung des Bundestages. Drei Tagesordnungspunkte ließen viele Menschen – einer davon ich – am Dienstag mit Spannung auf die live übertragene Veranstaltung blicken: erstens die Wahl von CDU-Frau Julia Klöckner zur Bundestagspräsidentin, zweitens die Wahl ihrer Vizes und drittens eben die Rede von Gregory Gysi.

Bevor ich dazu komme, kurz zu den anderen beiden Punkten: Die im Vorfeld nicht unumstrittene Klöckner wurde mit einem nicht tollen, aber soliden Ergebnis gewählt und ließ in ihrer Rede erkennen, dass sie das Amt mit der nötigen Würde ausüben möchte. Ob es ihr gelingt? Für eine Beurteilung ist es natürlich noch zu früh. Die Vizes wurden alle gewählt – bis auf den Kandidaten der AfD. Der fiel wieder durch. Dreimal. Damit hat die in Teilen rechtsextreme Partei es nun insgesamt 29-mal versucht, und 29-mal haben die anderen Parteien ihr einen Platz im Präsidium verweigert. Nicht sehr überraschend übrigens.

Gysi wirkte wie ein Maulwurf

Eine Überraschung war lediglich die Rede von Gregor Gysi in dieser historischen Sitzung. Überraschung allerdings im Sinne von: Enttäuschung. Und das wäre auch dann so, wenn die Erwartungen durch Gysis bisheriges Wirken auf der öffentlichen Bühne im Vorfeld nicht so hoch gewesen wären. Ein brillanter Redner, der ohne Redezeitbegrenzung vorm Hohen Haus reden darf – vielleicht zum letzten Mal in seiner Karriere: What should possibly go wrong – Was kann da schon schief gehen?, lautet die übliche rhetorische Frage, die man in solchen Fällen im Netz liest. Die Antwort: Vieles ging schief.

Der 77-Jährige spulte eine Rede ab, von der wir Westfalen sagen: Von Höcksken auf Stöcksken. Einmal quer durch den bunten Garten wühlte Gysi sich in den rund 40 Minuten, die er sich genommen hatte für seinen langerwarteten Auftritt. Wie ein Maulwurf. Leider auch blind wie ein Maulwurf für die Chance, die sich ihm geboten hatte.

Das war leider nicht die Rede seines Lebens

Er hätte auf die in vielen Bereichen noch immer nicht wirklich vollzogene Wiedervereinigung zu sprechen kommen können in seiner Rede. Und dabei womöglich, gewagter Gedanke, aber das hier ist meine Kolumne und da kann ich so gewagt denken, wie ich will: auch mal selbstkritisch eingehen auf seine eigene Rolle vor und auch nach der Wiedervereinigung. Über Vergangenheitsbewältigung sprechen. Über Fehler. Über Reifen und Wachsen. Oder auch über die Gefahr von Rechtsaußen – dort sitzen seit Dienstag 152 Abgeordnete der AfD. Er hätte auf das Weiße Haus zeigen können, er hätte dabei auch auf den Kreml zeigen müssen. Kurz: Es gibt Bedrohungen von außen wie von innen für die deutsche Demokratie, die Zeiten sind außergewöhnlich. Das erfordert und ermöglicht außergewöhnliche Ansprache. Und wer, wenn nicht ein außergewöhnlich guter Redner wie Gysi, ist dafür besser geeignet, kann das Publikum im Hohen Haus, aber vor allem auch das Volk da draußen anstoßen? Und von mir aus auch vor den Kopf stoßen?

Gysi hätte ein Zeichen setzen können. Er hätte das qua Sprach- und Entertainingkraft, vor der er doch eigentlich strotzt, auf eindringliche, dabei charmante und mitreißende Art und Weise hinbekommen. Kurz: Gregor Gysi hätte die Rede seines Lebens halten können.

Da wurde gelangweilt aufs Smartphone geschaut

Hätte. Ich bleibe im Konjunktiv, denn Gysi blieb in der Praxis überraschenderweise weit unter seinen Möglichkeiten. Ja, er war sichtbar nervös. Gysi ist nicht nur sehr selbstbewusst, sondern auch sehr klug: Die Würde des Hohen Hauses ist ihm bewusst. Die Art des Vortrags mag diesem Umstand geschuldet sein: Gysi klebte am Manuskript. Das aber scheint in uninspirierten Stunden entstanden zu sein.

Immer mehr Abgeordnete griffen während Gysis Rede zum Smartphone oder lasen in analogen Erzeugnissen. Dass der CDU-Abgeordnete Sepp Müller im Buch "Die Täter sind unter uns – Über das Schönreden der SED-Diktatur" des ehemaligen Direktors der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen Hubertus Knabe las, war wohl eher als stummer, gegen Gysi gerichteter Protest gedacht, statt der allseits aufkommenden Langeweile geschuldet.

Es hätte ein Feuerwerk werden können. Eine Rede, über die man hätte streiten können. Stattdessen entfachte Gysi, wenn überhaupt, ein Tischfeuerwerk. Und sorgte unfreiwillig für eine weitere Überraschung, die ihm aber ebenso wenig schmeichelt: Der Mann, der seit so vielen Jahren polarisiert, einte gestern Gegner wie Fans. In ihrer Enttäuschung über seinen Auftritt.

Verwendete Quellen
  • Eigene Meinung
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