Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Debatte um Tagesthemen-Kommentar Es ist völlig irre
Ein Kommentar in den Tagesthemen hat eine Kontroverse ausgelöst, bei der sich plötzlich die Rollen verdrehen. Grüne übernehmen nun die Positionen von Rechten.
Wer seit Montagabend viel auf X unterwegs ist, findet sich in einer verkehrten Welt wieder: Menschen, Konservative und Marktradikale, die den Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk (ÖRR) in seiner journalistischen Unabhängigkeit normalerweise irgendwo auf einer Skala von Radio Eriwan bis TV Nordkorea ansiedeln, sind plötzlich die größten ÖRR-Fans. Andere hingegen, die sonst gebetsmühlenartig auf die wichtige Funktion des ÖRR für eine funktionierende Demokratie und eine kritische Öffentlichkeit hinweisen, erwägen nun, lieber in den Knast zu wandern, als weiter den Rundfunkbeitrag zu zahlen.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf Twitter – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Was ist passiert? Die Tagesthemen haben einen Kommentar gesendet. Einen Kommentar, – jetzt schnallen wir uns mal alle an – in dem der Kommentator seine Meinung wiedergibt. Man muss kein Medienprofi sein, um zu wissen: Exakt das ist die Aufgabe des journalistischen und sehr genau in jedem Lehrbuch definierten Genres namens "Kommentar". Ein neutraler Kommentar, wie ihn nicht wenige Erboste nun fordern – das ist ein Widerspruch in sich. Ein neutraler Kommentar ist das Gleiche wie ein schwarzer Schimmel, ein heißes Eis oder auch eine harmonische Ampelkoalition.
Man kann über vieles streiten
Die Tagesthemen senden regelmäßig und in hoher Schlagzahl Kommentare. Meistens passiert danach: nichts. Jetzt aber ist die Hölle los und bei vielen gehen die Lampen an beziehungsweise die Lichter aus – je nach Perspektive.
Der Kommentator geht hart mit Robert Habeck und Olaf Scholz ins Gericht. Kanzler und Wirtschaftsminister hätten durch Atomausstieg und andere Fehler dafür gesorgt, dass Deutschland wirtschaftlich so dasteht, wie es dasteht.
Natürlich lässt sich aber darüber streiten, ob Habeck technisch (und innerparteilich) überhaupt eine Chance gehabt hätte, die drei bis zum Schluss verbliebenen Atommeiler doch noch am Netz zu lassen. Es gibt Menschen, die sagen: Ja, es wäre noch eine Zeit lang möglich gewesen. Bei diesen Menschen handelt es sich weder um komplette Vollidioten noch um verschlagene Halunken, die einer bösen Agenda folgen. Man kann auch darüber debattieren, ob die schwedische Energieministerin mit ihren Vorwürfen, die sie Deutschland aufgrund der zeitweilig gestiegenen Energiepreise (Stichwort “Dunkelflaute“) macht, recht hat – oder ob sie sich auf Habecks Kosten profilieren will.
Man kann darüber reden, ob Olaf Scholz’ Politik und Führung wirklich schuld sind an der deutschen Misere. Oder ob 16 Jahre Merkel inklusive Augenwischerei und Reformstau nun voll durchschlagen und auch ein etwaiger Kanzler Armin Laschet jetzt einigermaßen rat- und erfolglos dastünde. Ich werde mir sicherlich nicht anmaßen, darauf auch nur den Hauch einer Antwort zu geben. Worauf ich aber nach über 20 Jahren als Mitarbeiterin der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gerne eine gebe, sind die elenden Mechanismen, die nun wieder greifen. Nur eben aktuell mit ungewöhnlicher Rollenverteilung.
Vom Mob beschimpft
Der ÖRR ist in Verruf geraten. Die Lügenpresse-Kampagne der AfD hat gezündet. Ich lasse Sie da gern einmal an meinem persönlichen Erfahrungsschatz teilhaben. Ich arbeite ja schließlich seit Langem und aus tiefer Überzeugung für den ÖRR.
Vor allem auf X, vormals Twitter, ist es seit Jahren kaum mehr möglich, als ÖRR-Journalistin mit einigermaßen Reichweite und Freude an Debatten irgendetwas zu posten, ohne sich vom rechten Mob Folgendes oder Ähnliches anhören zu müssen: Ich bin links-grün. Ich bin eine Staatsfunkerin. Eine Systemschranze. Ich empfange meine Arbeitsanweisungen direkt aus dem Kanzleramt (auch dann, wenn dort gerade eine CDU-Kanzlerin regiert und ich ja eigentlich rot-grün bin). Ich habe anderswo keinen Arbeitsplatz gefunden und musste deshalb beim ÖRR anfangen.
Ich könnte diese Liste weiterführen – und andere können es auch. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen bei ARD und ZDF kennen all diese platten Anwürfe von Menschen, die sich eine sehr unterkomplexe Welt wünschen, damit sie endlich auch nur irgendetwas durchschauen. Wir kriegen sie täglich ab.
Plötzlich Verräterin
Seit Dienstagabend jedoch normalisiere ich, glaubt man einigen dort, den Faschismus, liebäugle mit der Union. Ich habe viele Menschen (die ich überhaupt nicht kenne und die mich auch nicht kennen, sondern nur meine Postings), menschlich schwer enttäuscht. Seit Dienstagabend sind Leute, die sich bis dato mit ihrer Bejahung des ÖRR im antifaschistischen Widerstand wähnten, anscheinend kurz davor, mich vor Gericht zu zerren. Der Vorwurf: Verrat. Oder um es mit den Worten eines Users zu zitieren: "Sie selbst haben sich die Maske vom Gesicht gerissen und Ihre rechte Fratze entblößt, um gegen die Grünen zu hetzen."
Ich finde es völlig in Ordnung, wenn ein Kommentar nicht meiner Meinung entspricht, und das habe ich auch so geschrieben. Ebenso wie ich kundgetan habe, welcher Grad an Albernheit aus meiner Sicht erreicht ist, wenn als Reaktion auf einen unliebsamen Kommentar direkt die Entlassung des Kommentators, die komplette Abschaffung von Kommentaren in den Tagesthemen, des Rundfunkbeitrags und auch die Entlassung der ARD-Programmdirektorin gefordert wird.
Die heißt nämlich Christine Strobl und steckt angeblich hinter allem, wollen besonders Schlaue ausgemacht haben: Ihr Vater hieß Wolfgang Schäuble, war ein CDU-Urgestein, und ihr Mann ist Thomas Strobl, ebenfalls CDU-Politiker. Da ist es doch logisch, dass ein solcher Kommentar gegen Robert Habeck überhaupt erst möglich ist! Und es kein gemeinsames TV-Duell zwischen den Kanzlerkandidaten Olaf Scholz, Friedrich Merz, Robert Habeck und Alice Weidel gibt. Strobl, dazu versteigen sich selbst bürgerliche Existenzen in ihrem Wahn auf X, sei eine Faschistin. Und indem ich sie nicht als Strippenzieherin hinter allem wähne, normalisiere ich den Faschismus.
Maß und Mitte sind verloren
Auch dieser Furor trifft nicht nur mich. So wie mir geht es in dieser Schlacht seit Dienstagabend auch anderen Journalisten. Maß und Mitte scheint bei vielen völlig verloren.
Der Wahlkampf sei von oben gesteuert – auch dieses Lied ist alt. Normalerweise singen es Rechte. Jetzt nicht mehr. Es reicht ein unliebsamer Kommentar und eine unliebsame (natürlich auch diskussionswürdige) Entscheidung in Sachen Kanzlerduelle, um ein komplettes Weltbild zum Kippen zu bringen. Es zeigt, dass anscheinend auch Wähler der Grünen dem rechten Mob auf den Leim gegangen sind und wirklich an die große Verschwörung glauben. An gesteuerte Journalisten. Und das aber immer dann total in Ordnung finden, wenn sie es für ihren Vorteil halten. So wie die anderen jetzt auch: Endlich fühlen sich Konservative und Rechte und Extremisten verstanden. Und plötzlich ist der ÖRR total super. Auch dafür genügt ein Kommentar. Es ist völlig irre.
So macht man Verfassungsfeinde salonfähig
Und es ist riskant. Es geht nicht um mich. Geht es ja nie. Es geht um Projektionen. Darum, Journalisten entweder als Aktivisten zu verunglimpfen oder aber als Aktivisten einzuspannen. Das hat mit Freude an und Respekt für freien, unabhängigen Journalismus nichts zu tun. Im Gegenteil: Solch ein Gebaren destabilisiert ihn und schadet seinem Ansehen. Indem man die Argumentations- und Erklärungsmuster von Verfassungsfeinden übernimmt, adelt man sie. So macht man sie salonfähig.
Ein Kampf, der je nach Tageslaune für oder gegen etwas geführt wird, entspringt ja keiner Überzeugung und ist einer reifen Demokratie nicht würdig. Er ist kindisch. Und produziert nur Verlierer.
- Eigene Meinung