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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Terror zwischen Realität und Fiktion Mit diesem "Tatort" bringt sich die ARD in Schwierigkeiten
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Die ARD zeigt am Sonntag einen "Tatort", der die Folgen aus der Machtübernahme in Afghanistan thematisiert. Daraus entsteht eine ungewollte Aktualität.
Am Donnerstag raste ein Asylsuchender aus Afghanistan in eine Menschenmenge in München. Seitdem herrscht Alarmstimmung: Von SPD bis AfD rauschen parteiübergreifend Sätze über eine strengere Migrationspolitik durch die Republik, die Forderungen aller politischen Gruppen überschlagen sich im Minutentakt. Die Lage im Land ist angespannt, die Stimmung gereizt.
Nicht einmal drei Tage später läuft im Ersten zur besten Sendezeit ein "Tatort", der entsetzliche Attentate, eine Stadt in Aufruhr und den Abzug der Nato-Truppen aus Afghanistan thematisiert. Was für eine bittere Ironie, dass ausgerechnet der populäre ARD-Sonntagskrimi das beherrschende Thema fiktionalisiert – dabei aber einen ganz anderen Fokus wählt.
Berlin statt München, Besuch von König Charles III. statt der Münchner Sicherheitskonferenz, die am Tag der Autoattacke begann: Der "Tatort: Vier Leben" zeigt die Hauptstadt als Hochsicherheitstrakt. Die Parallelen zu den realen Ereignissen sind frappierend. Hochrangiger Besuch steht an – und kurz bevor dieser eintrifft, wird in dieser deutschen Großstadt ein Attentat verübt.
Der "Tatort" entstand im Winter 2023
Doch so sehr dieses Setting auch Ähnlichkeiten zwischen Wirklichkeit und Fiktion aufweist, driftet es im Anschluss auseinander. Um dies gleich klarzustellen: Der "Tatort" wurde vom 15. November bis 14. Dezember 2023 in Berlin gedreht – er geht in keiner Weise auf die aktuellen Ereignisse ein, die sich anderthalb Jahre später und 600 Kilometer weiter südlich Bahn brechen, und konnte dies auch nicht. Viele TV-Zuschauer werden dennoch verblüfft sein, denn zu Beginn des ARD-Krimis wird ein Disclaimer eingeblendet: Dieser "Tatort" sei angelehnt an wahre Begebenheiten, doch die Personen und Handlungen seien frei erfunden.
Dann geht es los: Am Bahnhof Friedrichstraße wird der aufstrebende Jungpolitiker Jürgen Weghorst erschossen. Ein minutiös geplanter Mord. Schnell entpuppt er sich als Scharfschützenattentat – und die Ermittler Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und Robert Karow (Mark Waschke) sehen sich mit dem Auftakt zu einer kaltblütigen Mordserie konfrontiert, die mit dem Abzug der Nato-Truppen in Afghanistan im Jahr 2021 zusammenhängt.
Ein "Tatort" mit ungeahnter Sprengkraft
Der Film ist hochspannend, inszeniert wie ein Thriller und klug konzipiert: Alles spielt an nur einem Tag, eine "ticking clock" führt den Zuschauern immer wieder den enormen Zeitdruck vor Augen, unter dem die Ermittler stehen. Zwei weitere Morde folgen, die Terrorlage wird ausgerufen, der Staatsbesuch des britischen Monarchen abgesagt. Der Täter scheint immer einen Schritt voraus.
Daraus entwickelt sich kein 0815-Krimi der Marke "Wer ist der Täter", sondern ein Politthriller mit internationaler Hintergrundgeschichte. Ein ehrenwerter Ansatz, doch genau da liegt das doppelte Problem des Films: Für das eine sind die Macher verantwortlich, für das andere nicht.
Die politisch-geschichtlichen Hintergründe sind zu komplex für einen 90-minütigen Fernsehfilm. Dass die deutsche Bundeswehr Afghanistan im Juni 2021 nach fast 20 Jahren verlassen hat und das schneller als ursprünglich geplant, dürfte vielen Zuschauern noch präsent sein. Doch die Details im Film irritieren. Die Schreckensherrschaft der Taliban, das Chaos in Kabul, dazu der mit deutscher Beteiligung erfolgte militärische Evakuierungseinsatz für Ortskräfte der Bundeswehr und deren Angehörige: All das wird in die atemlos inszenierte Thrillererzählung dieses "Tatort"-Films hineingezwängt, aber zu wenig beleuchtet, geschweige denn erklärt.
Was bleibt, ist ein fader Beigeschmack
Die Erzählung wirkt phasenweise wie eine Analogie auf die hektischen Szenen am Flughafen in Kabul, als verzweifelte Menschen sich an Flugzeuge hingen, um den Taliban zu entkommen. Angesichts der Fülle an Themen, der Komplexität dürfte es kaum verwundern, wenn das Publikum den Faden verliert – und sich dann fragt, warum bei einem Film über Anschläge in Deutschland mit Afghanistan-Hintergrund am Ende ein Deutscher der Mörder sein soll.
Es ist das so bittere wie schauderhafte zweite Problem der "Tatort"-Folge "Vier Leben" und es könnte Diskussionen entfachen. Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse dürfte die ARD mit dem Vorwurf konfrontiert werden, der Realität nicht ins Auge zu blicken und damit gegenwärtige Entwicklungen zu verharmlosen. Der Mörder ist nämlich nicht derjenige, der nach den aktuellen Ereignissen naheliegen würde. Was im Winter 2023 als Kniff aus künstlerischer Freiheit und politischem Kommentar brandaktuell erschien, könnte einigen Zuschauern am Sonntagabend wie Zynismus erscheinen.
Die ARD hätte die Möglichkeit gehabt, diesem Vorwurf zu entgehen: Der vom RBB verantwortete Sonntagskrimi hätte kurzfristig auf einen neuen Programmplatz geschoben werden können. Doch auf eine Anfrage von t-online, warum die ARD aus gegebenem Anlass keinen anderen "Tatort" zeigt, heißt es: "Eine Verschiebung ist aus unserer Sicht nicht notwendig und wäre auch nicht angemessen." Ein Sendersprecher des RBB meint: "Es gibt keine inhaltliche Verbindung zwischen dem 'Tatort' aus Berlin und dem Anschlag von München."
"Die einzige inhaltliche Verknüpfung" sei demnach der "Bezug zu dem Land, aus dem der Tatverdächtige von München stammt". Ob das die Zuschauer am Sonntag auch so sehen, bleibt abzuwarten. Angesichts der jüngsten Ereignisse im Land, einem sich ausbreitenden Unsicherheitsempfinden und den aufeinanderfolgenden Großlagen in Innenstädten könnte auch ein ganz anderer Eindruck entstehen: ein fader Beigeschmack.
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- ARD: "Tatort: Vier Leben" vom 16. Februar 2025
- rbb-online.de: Pressedossier "Tatort: Vier Leben"