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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Dieses Detail verrät den Clou "Tatort"-Auflösung wird schon nach wenigen Minuten klar
Dieser Sonntagskrimi hat eine spannende Geschichte und eine besondere Idee zu bieten. Dabei nutzt der Fall aus Stuttgart zu Beginn einen Trick – mit weitreichenden Folgen.
Am Ende ist man immer schlauer. Da fällt es einem dann, sprichwörtlich, wie Schuppen von den Augen. Im neuen "Tatort: Vergebung" aus Stuttgart ist das auch so. Denn direkt zu Beginn des 90-minütigen Krimis wird ein Gedicht aus dem Off vorgetragen. Es entfaltet seine Wirkung vor allem durch seine morbide Thematik und passt gut zu den gezeigten Bilder eines Flusses. Doch das ist noch nicht alles. Was viele Zuschauer zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen werden: Die gewählte Lyrik des Dichters Conrad Ferdinand Meyer verrät bereits, auf welches Drama der Film zusteuert.
- "Tatort"-Kritik: Warum dieser Fall aus Stuttgart so grandios ist
Das Gedicht nennt sich "Lethe" – auch das schon eine geeignete Symbolik für den Krimi aus Stuttgart. Denn Lethe beschreibt den Fluss der Unterwelt und ist der griechischen Mythologie entnommen. Man glaubte im alten Griechenland, wer vom Wasser der Lethe trinke, verliere seine Erinnerung vor dem Eingang ins Totenreich. Eine andere Überlieferung lautet: Tote Seelen mussten aus dem Fluss trinken, damit sie sich nicht mehr an ihr vergangenes Leben erinnerten – und genau darum dreht sich auch das Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer.
Diese Zeilen sind im "Tatort: Vergebung" zu hören
Jüngst im Traume sah ich auf den Fluten
Einen Nachen ohne Ruder ziehn,
Strom und Himmel stand in matten Gluten
Wie bei Tages Nahen oder Fliehn.
Sassen Knaben drin mit Lotoskränzen,
Mädchen beugten über Bord sich schlank,
Kreisend durch die Reihe sah ich glänzen
Eine Schale, draus ein jedes trank.
[...]
In die Welle taucht ich. Bis zum Marke
Schaudert ich, wie seltsam kühl sie war.
Ich erreicht’ die leise ziehnde Barke,
Drängte mich in die geweihte Schar.
Und die Reihe war an dir zu trinken,
Und die volle Schale hobest du,
Sprachst zu mir mit trautem Augenwinken:
"Herz, ich trinke dir Vergessen zu!"
Unscheinbar also. Ein Gedicht über ein Boot. Jungen und Mädchen, die darin sitzen und nicht rudern, stattdessen aber allesamt aus einer Schale trinken. Zu den Versen wird ein Verbrechen ins Bild gesetzt: Ein dunkler Waldabschnitt in der Dämmerung, ein Männerkörper wird über die Planken eines Stegs geschickt und sinkt ins Wasser. Wenig später erfahren die Zuschauer: Eine Leiche wird im Neckar in Stuttgart angeschwemmt – und der Rechtsmediziner Daniel Vogt ist geschockt. Es ist sein alter Jugendfreund Matthias Döbele. Und genau der hatte sich vor ein paar Tagen bei ihm gemeldet, obwohl die beiden 40 Jahre keinen Kontakt hatten.
Zu Beginn von "Vergebung" wird gar nicht der Mord gezeigt
Womit wir beim Clou der Geschichte und zugleich ihrer Auflösung wären: Dieser "Tatort" dreht sich nur an der Oberfläche um die Suche nach dem Mörder von Matthias Döbele. Der Tote ist vielmehr der Auslöser für eine Reise in die Vergangenheit des Rechtsmediziners Vogt aus dem Team Lannert und Bootz. Dabei rücken die Kommissare von Felix Klare und Richy Müller in den Hintergrund und Jürgen Hartmanns Charakter wird zur Hauptfigur.
Das fängt schon mit einem simplen Trick des "Tatort"-Regisseurs Rudi Gaul an. Statt zu Beginn des Krimis den Mord an Matthias Döbele zu zeigen, wählt er ein anderes Verbrechen: Er inszeniert den Tötungsversuch an Daniel Vogt, den Rechtsmediziner. Der Filmemacher nimmt damit die Ereignisse der kommenden 90 Minuten vorweg und öffnet eine Klammer, die sich am Ende des Krimis schließt, denn erst dort wird diese Szene in ganzer Länge gezeigt.
Das Rätsel dreht sich gar nicht um den Mörder
Für aufmerksame Zuschauer ist der Beginn des Films dennoch ein Wink mit dem Zaunpfahl. Denn einerseits dürften "Tatort"-Kenner des Stuttgart-Teams den von Jürgen Hartmann gespielten Rechtsmediziner trotz der düsteren Bilder und der kurzen, zweiminütigen Sequenz erkennen. Außerdem ist in diesen zwei Minuten schon der Mörder zu sehen, wenn auch nur aus Vogelperspektive und nie von vorne, sodass sein Gesicht verborgen bleibt: Aber der von Paul Faßnacht gespielte Hans Letkowski hat eine Haltung und einen Gang mit hohem Wiedererkennungswert.
Womit wir beim Kern der Geschichte wären: den Ereignissen 40 Jahren vor dem Leichenfund im Neckar. Immer wieder plagen Daniel Vogt Erinnerungsfetzen aus seiner Kindheit, es scheinen peinigende Erlebnisse zu sein, die er offenbar lange aus seinem Bewusstsein gesperrt hat. Im Laufe des Films wird klar: Dies ist das eigentliche Rätsel, das die Zuschauer lösen sollen und dafür ist das Gedicht der Schlüssel.
Es hat einen Tod gegeben in den Achtzigern, ein Trauma begleitet die daran Beteiligten bis heute – doch der Fluss des Vergessens, Lethe, wirft seine Schatten voraus. Denn die letzte Strophe von Conrad Ferdinand Meyer endet mit den Zeilen: "Da zerrannst du lächelnd mir im Arme. Und ich wusst es wieder – du bist tot."
Daniel Vogt ist das lyrische Ich im Fluss des Vergessens
Das lyrische Ich aus dem Gedicht scheint im "Tatort: Vergebung" der von Jürgen Hartmann gespielte Daniel, der versucht, den Tod eines Kindheitsfreundes zu verdrängen und durch die Leiche von Matthias Döbele daran erinnert wird. Er taucht ab in seiner Vergangenheit und verzweifelt an der Erkenntnis, das Geschehene nicht mehr rückgängig machen zu können.
Im Originalgedicht dauert dieser Prozess sieben Strophen, im "Tatort" rund 90 Minuten. Die Knaben aus der Lyrik, die über den Fluss ziehen, es sind hier im Film Matthias, Daniel und Jonas. Und die Todeserfahrung der Jugendclique, die am Ende von "Vergebung" aufgelöst wird: Sie hätten einem bei genauerer Kenntnis des "Lethe"-Gedichts schon klar sein können. Aber am Ende ist man immer schlauer.
- ARD: "Tatort: Vergebung" vom 19. November 2023