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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Das neue "Tatort"-Team aus Berlin So funktioniert das nicht
Corinna Harfouch feiert ihr Debüt neben Mark Waschke im RBB-"Tatort". Dem Sender ist damit ein Coup gelungen – der dennoch seine Wirkung verfehlt.
Corinna Harfouch ist ohne Frage eine der profiliertesten Charakterdarstellerinnen des Landes. Jetzt ist sie "Tatort"-Star für den RBB, ihr erstes festes Ermittler-Engagement nach sieben Episodenrollen im ARD-Krimi seit 1993. Für den Sender aus Berlin und Brandenburg ist das ein echter Coup. Allein der Name Harfouch wird das Interesse des Publikums am RBB-"Tatort" wecken.
Doch den Start mit Harfouchs Rolle hat der Sender verpatzt. Mehr noch: Er schlägt mit Susanne Bonard einen Weg ein, der Zweifel an der Kompetenz der dortigen "Tatort"-Verantwortlichen aufkommen lässt. Denn mit einer Schauspielgröße des Formats Harfouch wäre deutlich mehr möglich gewesen, als es Zuschauer nun in den ersten 180 Minuten erleben müssen.
Der "Tatort: Nichts als die Wahrheit" kommt als Doppelfolge daher, eröffnet dem neuen Team um Mark Waschke und Corinna Harfouch einen üppigen Raum zur Entfaltung. Die neue Konstellation kann ausgiebig erzählt, die langsam aufkeimende Teamchemie in Wallung gebracht werden. Dabei wird Harfouchs "Tatort"-Kommissarin als eine ehemalige LKA-Größe vorgestellt, die inzwischen an der Polizeiakademie lehrt und wegen ihres Buchs "Polizeiarbeit im Rechtssystem: Herausforderungen und Chancen" als Koryphäe gilt.
Dit is Berlin, wa? Nein!
Noch mehr erfahren Zuschauer über Susanne Bonard: Sie ist 62 Jahre alt und damit sechs Jahre jünger als ihre Darstellerin Corinna Harfouch. Außerdem ist sie mit einem Richter verheiratet und Mutter eines bereits erwachsenen Sohnes, der immer noch bei ihr und ihrem Mann wohnt. Die dreiköpfige Familie bewohnt ein schickes Einfamilienhaus mit Garten, Kamin, großer offener Wohnküche, feiner Siebträgermaschine, Blick ins Grüne.
Dit is Berlin, wa? Nein, überhaupt nicht. Die neue "Tatort"-Kommissarin des RBB ist ein wandelndes Wohlstandsporträt. Eine Frau, die alles hat, nur keine Sorgen: Renommee, intakte Familie, ein prall gefülltes Konto. Aber warum braucht ausgerechnet der Sonntagskrimi aus der Hauptstadt neben Langzeitermittler Robert Karow eine reiche Virtuosin mit Villa? Das weiß nur die Redaktion des RBB.
Denn Corinna Harfouch selbst kann wenig dafür, sie spielt die ihr vorgegebene Rolle überzeugend. Eine Grande Dame des deutschen Films – das passt gut zu einer Polizeigröße, einer angeblichen Meisterin ihres Fachs. Aber der Zuschauer wird den Eindruck nicht los, dass das alles wie ein großes "Tatort"-Special arrangiert ist: 180 Minuten Doppelfolge, Harfouch wechselt für eine "Sonderermittlung" von der Schulbank noch einmal auf die Straße. Als sie in ihrer Rolle dann am Ende zu Kollege Karow "bis Montag" sagt, wird jedoch die Erinnerung wach, dass dies keine Eintagsfliege, sondern Dauerzustand werden soll.
Das erinnert an schlimme Schlesinger-Zeiten
Ihr Mann, der Richter Kaya Kaymaz, hat erheblichen Anteil an dem seltsamen Gesamteindruck. Der von Ercan Karaçayli gespielte Jurist ist ein hohes Tier am Gericht, erhält im Laufe des Falls eine persönliche Einladung für sich und seine Frau vom Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts. Das wird am Ende auch für die Auflösung von "Tatort: Nichts als die Wahrheit" von Bedeutung sein. Spätestens da stellt sich ernsthaft die Frage, warum das alles sein muss: Eine neue Ermittlerin in Berlin mit besten Kontakten und einem Mann, der engste Drähte zu Verfassungsorganen pflegt. Geht es noch elitärer?
Ist das nicht alles ein bisschen dick aufgetragen für Berlin? Das erinnert an peinliche RBB-Kapitel à la Patricia Schlesinger und extravagante Einladungen zu exklusiven Essen in der Hauptstadt-High-Society. An Zeiten, die der Sender nach den Possen des vergangenen Jahres hinter sich lassen wollte. Dass ausgerechnet der "Tatort" als regionales Aushängeschild einer jeden ARD-Anstalt nun dem RBB diesen Bärendienst erweisen muss und unfreiwillig an solche Blamagen erinnert, mutet fast schon komisch an.
Zumal die Frage erlaubt sein muss, was Susanne Bonard als Figur für eine Geschichte erzählt. Die feine Dame als Berliner Archetyp? Aus der pulsierenden Metropole, der progressiven Hauptstadt mit seinen dreieinhalb Millionen Menschen zeigt der zuständige öffentlich-rechtliche Sender jetzt eine Frau, die in dieser Form in jeder zweiten Vorstadtserie vorkommen könnte? In der hier gezeigten Familienkonstellation wäre ARD-typisch ein ach so beklagenswertes Trennungsdrama zu erwarten gewesen: schneidige Top-Anwälte würden die teure Scheidung verhandeln, der etwas sozial-inkompatible Sohn in psychologischer Betreuung landen.
Aber nein, das ist der "Tatort". Der soll aufregend sein, Neues wagen, aufrütteln. Das hier ist so aufregend wie ein Sonntagsausflug zum Fernsehturm – aber gut, ist auch Berlin, nur eben alles andere als typisch. Was waren das für Zeiten mit Nina Rubin, der ersten jüdischen "Tatort"-Kommissarin, geboren im Arbeiterbezirk Wedding, Wohnung in Kreuzberg. Nächte durchgetanzt, Kodderschnauze, Berliner-Späti-Charme: All das hatte Flair – aber das ist leider Geschichte.
Der neue "Tatort" mit Corinna Harfouch zeigt, wie sehr Meret Becker vermisst wird.
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