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ARD-Tatort: "Land zwischen den Meeren" – zwischen Wirklichkeit und Fantasie


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Der "Tatort"-Faktencheck
Kann man sich an einen Mord wirklich nicht mehr erinnern?

Barbara Schaefer

Aktualisiert am 26.02.2018Lesedauer: 6 Min.
Ein toter Mann (Beat Marti) in der Wanne, eine verzweifelte Geliebte (Christiane Paul) – aber wer hat die Tat begangen?Vergrößern des Bildes
Ein toter Mann (Beat Marti) in der Wanne, eine verzweifelte Geliebte (Christiane Paul) – aber wer hat die Tat begangen? (Quelle: NDR/Christine Schroeder)
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Das "Land zwischen den Meeren" ist auch ein Zwischenreich: Auf einer fiktiven Nordseeinsel gerät Kommissar Borowski auf der Suche nach einem Mörder in eine Welt zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Aber wie kann es sein, dass eine Mörderin sich nicht an ihre Tat erinnert?

Zu Beginn steigt eine Frau sirenengleich aus dem Wasser: Famke Oejen (betörend: Christiane Paul), die kurz danach ihren Lebensgefährten tot in der Badewanne findet. Sie rast vor Trauer und Schmerz, und verdächtigt jeden im Dorf. Kommissar Borowski (Axel Milberg) hört allen zu, schaut treuherzig wie immer, und wird wie immer unterschätzt.

Wir befinden uns auf Suunholt, einer fiktiven Nordseeinsel, gedreht wurde auf Amrum und Fehmarn, und hinter dem scheinbaren Idyll lauert mal wieder das normale Leben. Spannend zusammengerührt (Regie: Sven Bohse) mischen sich Geldsorgen des Schweinezüchters, Aberglaube, bedingungslose Liebe, religiöser Wahn, Träume und Naturgewalten.

Und in Sturmnächten klingeln die Glocken von Rungholt, einer untergegangenen Siedlung an der nordfriesischen Küste, durch Gottes Zorn dahingerafft wegen des lästerlichen Lebenswandels der Bewohner. Sagt jedenfalls die Betschwester des Dorfes. Einmal muss sogar Borowski (souverän wie immer: Axel Milberg) laut werden: Wie könne es sein, dass einem an einem so friedlichen Ort eine solche Scheiße passiert?

Während Borowski – scheinbar? – der schönen Sirene verfällt, taucht er immer tiefer nach der Wahrheit und bringt sie schließlich ans Licht: Die Trauernde selbst war die Mörderin. Aber kann es wirklich sein, dass sie sich nicht mehr daran erinnert? Und was sagt das aus über uns und unser Gedächtnis? t-online.de hat nachgefragt.

Der Faktencheck

Fragen an Prof. Dr. Sabine C. Koch, Psychologie-Professorin an der SRH Hochschule Heidelberg

t-online.de: Zum Plot: Eine rasende Trauernde, die jeden im Ort der Mordtat an ihrem Geliebten bezichtigt. Am Ende stellt sich heraus, dass sie selbst die Mörderin war. Dabei hat sie nicht gelogen, sie konnte sich einfach an nichts erinnern. Ist so etwas denkbar?

Prof. Dr. Sabine C. Koch: Es gibt dissoziative Phänomene, bei denen das vorkommen kann. Dissoziation, das sind zunächst "out of body experiences", bei denen die Person das Gefühl hat, den eigenen Körper zu verlassen, über sich zu schweben, hinter sich zu stehen, sich von außen zu betrachten und den eigenen Körper nicht zu spüren. Diese Fähigkeit ist in jedem Menschen angelegt. Kommt es nun zu schweren traumatischen Erfahrungen, insbesondere wenn diese in der frühen Kindheit beginnen, kann sich daraus die dissoziative Identitätsstörung bilden. Dabei geht die Dissoziation so weit, dass sich unterschiedliche Persönlichkeitsanteile sozusagen "verselbstständigen" können, und sich die Person auch als fragmentiert und verwirrt wahrnimmt. Dabei gibt es dann eine Hauptpersönlichkeit, und oft Kindheits-Ichs, aggressive oder frivole Personen, schützende Personen, etc. Wenn die betroffene Person unter Stress gerät, kann es sein, dass sie in eine andere Persönlichkeit wechselt. Manchmal kann sie sich daran erinnern, manchmal auch nicht. So kann es sein, dass eine Person sich plötzlich sonntags in der Küche sitzend wiederfindet und die letzte Erinnerung vorher an den Freitagabend war, und die Person keine Ahnung hat, was zwischen Freitagabend und Sonntag alles passiert ist. Das ist sehr angstauslösend, wie Sie sich vorstellen können. In solch einem Zustand könnte die Protagonistin beispielsweise gewesen sein.

Laut Drehbuch war es so: Aus Verlustangst bringt sie ihren Geliebten nachts um. Als sie morgens den Toten sieht, rast sie aus Trauer und Schmerz. Der Kommissar sagt: "Wenn die Seele etwas nicht erträgt, vergräbt sie es ganz weit in sich, bis sie nicht mehr weiß, was die Wahrheit ist." – Ist an dieser Laien-Meinung etwas Wahres dran?

Ja, das ist vorstellbar. Auch Traumata werden ja so im Gehirn "vergraben" und kommen dann eventuell viel später in Form von Flashbacks und intrusiven Gedanken wieder zurück ins Gedächtnis. Der physiologische Arzt und Forscher Dr. Shai Efrati hat in Israel kürzlich einen interessanten Mechanismus festgestellt: Offensichtlich werden Bereiche des Gehirns, die solche traumatischen Erinnerungen speichern, einfach nicht mehr mit genügend Sauerstoff versorgt, vermutlich, um das Schreckliche zu vergessen. Efrati hat bei Fibromyalgie-Patienten (ein Muskelschmerzsymptom) festgestellt, dass bei der Hyperbaric Oxygen Therapy, eine Therapieform, bei der man reinen Sauerstoff atmet, um unterversorgte Bereiche des Gehirns zur Neurogenese zu stimulieren, bei 40 Prozent der Patienten traumatische Erinnerungen aufgetaucht sind und zwar in einem hohen Tempo. Damit hatte Efrati nicht gerechnet und fühlte sich zunächst überfordert. Er hat dann Kunsttherapeuten der Universität Haifa zu Hilfe geholt, die die Patienten in der Sauerstoffkammer haben malen lassen und die Erinnerungen mit ihnen nachbesprochen haben, wobei man dann feststellte, dass die Erinnerungen unter dem hohen wiederholten Sauerstoffeinfluss auch schneller verarbeitet werden konnten, als dies normalerweise aus Psychotherapien bekannt ist. Ein sehr interessanter Hinweis auf einen physiologischen Mechanismus, der zu diesen augenscheinlich psychischen Problemen und faszinierenden Phänomenen des fragmentierten Vergessens und Erinnerns beizutragen scheint.

Das Einzige, was eventuell nicht so realistisch ist, ist meines Erachtens, das "aus Verlustangst"; es wäre wohl eher "in einem dissoziativen Zustand", in dem sie eventuell in eine Täterpersönlichkeit "geswitcht" ist, das heißt, einen Persönlichkeitsanteil, der ausführt, was ihr angetan wurde, im Raum stand, oder ihr angetan werden sollte…

Wenn so etwas tatsächlich geschehen kann – gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede?

Meines Erachtens, nein. Bedingt kann man sagen, dass Frauen, die in ihrer Kindheit Gewalt und Traumata erlebt haben, dazu tendieren, selbstverletzendes Verhalten zu zeigen; während Männer dazu tendieren, selbst erlebte Gewalt stärker zu externalisieren und selbst zu Tätern zu werden; deshalb findet man mehr Frauen mit dissoziativen Persönlichkeitsstörungen in den Psychiatrien und Psychosomatiken und mehr Männer in den Gefängnissen; wobei beides bei beiden Geschlechtern vorkommen kann (Putnam, 1988).

Braucht es dafür eine bestimmte Grundkonstellation, psychisch labile Menschen, hoch emotionale Charaktere, oder auch krankheitsbedingte Störungen?

Trauma in der frühen Kindheit, je früher und schwerer desto schwerwiegender die dissoziative Symptomatik. Wenn die Erinnerungen daran wieder einsetzen, macht das die betroffenen Menschen sehr labil (auch oft grundsätzlich). Ich habe beispielsweise eine Frau behandelt, die erzählt hat, bei okkultistischen Ritualen im Alter von zwei Jahren im Rahmen einer Aufnahmezeremonie mit einem Eisen ein Brandmal auf den Hinterkopf erhalten zu haben... Früher sexueller Missbrauch, oder schwere körperliche Gewalt. Sie wollen gar nicht wissen, was alles passiert... Wichtig zu wissen: Die Dissoziation ist dabei ein Überlebensmechanismus. Der Mensch, der Leib rettet sich sozusagen ins "nichts mehr spüren" und "aus dem Körper gehen". Mit der Zeit erst prägt sich das dissoziative Persönlichkeitssystem aus –- auch als Schutzmechanismus (mit unterschiedlichem verbalen und nonverbalen Verhalten, unterschiedlicher Stimme und Bewegung, unterschiedlichem Schriftbild der eigenen Unterschrift, etc. wenn die Personen in den unterschiedlichen Zuständen sind; man kann es oft nicht glauben, auch wenn man direkt davorsteht). Die dazugehörigen klinischen Krankheitsbilder heißen Dissoziative Identitätsstörung (und weitere dissoziative Störungsbilder), PTBS: Posttraumatische Belastungsstörung, und Borderline Persönlichkeitsstörung.

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Und grundsätzlich: Ist das nicht eine ziemlich gruselige Vorstellung: Es besteht die Möglichkeit, dass wir Taten begehen, an die wir uns schon direkt danach nicht mehr erinnern – was sagt das aus über die Kraft und die Zuverlässigkeit unseres Denkens und unserer Erinnerung allgemein?

Ja, dissoziative Phänomene sind äußerst faszinierend, es gibt immer Debatten über die Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit der Persönlichkeits-switches, die schon sehr verblüffend sein können. Es gibt auch immer Debatten über den Realitätsgehalt der Erinnerungen (siehe die Debatte zum "false memory syndrom"; aus der Psychologie sind viele Phänomene bekannt, die zeigen; dass unser Gedächtnis alles andere als zuverlässig ist – es ist immer konstruktiv; dazu zum Beispiel Markowitch, 2004). Fakt ist jedoch, dass diese ausgeprägte Fähigkeit dissoziativer Patienten, den Mechanismus zu nutzen, aus einem großen erlebten Leid resultiert. Wenn wir sie in den Kliniken sehen, ist ihr Funktionsniveau meist sehr niedrig, das Leiden hoch, die Personen sehr labil, schutz- und behandlungsbedürftig. Strafrechtlich sehr interessant: Kann die Person überhaupt belangt werden, wenn sie in einem dissoziativen Zustand war; auch dazu gibt es einige wenige Forschungsartikel.

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