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Zum journalistischen Leitbild von t-online.HR-Episode macht Lust auf mehr Die Leiden des Ulrich Tukur: Verkehrte Welt im preisverdächtigen "Tatort: Wer bin ich?"
Die Ideenschmiede des Hessischen Rundfunks (HR) hat wieder einmal zugeschlagen. Auch mit dem dritten "Tatort" in Folge gelang dem HR ein weiterer Meilenstein der Krimi-Erzählkunst. Der Fall "Wer bin ich?" überzeugte mit einer Film-im-Film-Verwicklung, bei der nicht die erdachten Kommissare, sondern ihre Schauspieler selbst sich bewähren mussten. Und das war ein genialer Coup.
Es ist eine große Stärke der HR-Krimimacher, immer wieder das Wagnis einzugehen und vertraute Strukturen und Erzählwege zu verlassen. Bereits die Episode "Das Dorf" und die mehrfach ausgezeichnete Folge "Im Schmerz geboren" spielten mit den Sehgewohnheiten des Publikums. In "Wer bin ich?" wurde diese Lust zum Experimentieren fortgesetzt. Regisseur Bastian Günther jonglierte mühelos mit Erzählebenen und wechselte mutig Perspektiven und Rollen.
Der Blick hinter die Fassade des "Tatort"-Sets
So wurde dem Zuschauer suggeriert, er blicke hinter die Fassaden eines "Tatort"-Sets und komme in Kontakt mit den "realen" Problemen der Schauspieler, die in aller Konsequenz durchweg mit ihren richtigen Namen angesprochen wurden. Ein feiner Trick.
Bussi-Bussi-Filmbranche wird persifliert
LKA-Kommissar Felix Murot hat in dieser Episode bis auf einer kurzen Einführungssequenz und der großen Auflösung am Schluss keine Rolle gespielt. Sein Darsteller Ulrich Tukur geriet dafür umso mehr unter Beschuss. Unterstützt wurde er dabei von seinen Kollegen Wolfram Koch, Margarita Broich und Martin Wuttke, allesamt gestandene "Tatort"-Kommissare, die hier jedoch ausschließlich als sie selbst auftraten.
Herrlich selbstironisch und mit kleinen Seitenhieben auf die oft überkandidelte Filmbranche trugen sie zum Gelingen des Krimis bei. Wann hat man sich das letzte Mal beim Gucken des "Tatorts" so herrlich amüsiert? So eignete sich Wuttke - der nach dem Wegfall seiner Rolle als Leipziger "Tatort"-Kommissar einen "finanziellen Engpass" durchleidet - das Gangstergeld des Kollegen Tukur an. Und die Kollegin Broich beschwerte sich beim Redakteur, dass ihr Kompagnon Koch den ganzen Tag schmierige Witze reiße und ständig wissen wolle, wie er mit der Waffe in der Hand aussehe.
Tukur im Mittelpunkt der Ermittlungen
Das Film-im-Film-Manöver begann nach einer ersten Szene, in der Kommissar Felix Murot (Ulrich Tukur) in das Parkhaus des Wiesbadener Spielkasinos gerufen wurde und dort zusammen mit einigen Polizisten zwei Tote entdeckt hatte.
Danach schwenkte die Kamera im großen Bogen über die komplette Filmcrew, Beleuchter und Aufnahmeleitung. Regisseur Konrad (brillant: Justus von Dohnányi) rief "Cut!", bedankte sich und kündigte eine Pause an. Felix Murot wurde zum Schauspieler Ulrich Tukur, der sich beim Catering stärkte und wenig später von seinem Redakteur erfuhr, dass der Assistent der Aufnahmeleitung bei einem Unfall ums Leben gekommen sei.
Von dem Zeitpunkt an drehte sich die Geschichte und Tukur stand plötzlich im Mittelpunkt der Ermittlungen. Er soll bis zuletzt mit dem Toten zusammen gewesen sein, erinnerte sich jedoch an nichts. Tukur startete einen Aufklärungsmarathon, bei dem er sich aller kriminologischen Erfahrungen bediente, die er als "Tatort"-Kommissar gelernt hat. Das Know-how von Koch und Wuttke wurde noch obendrauf gepackt. Dennoch war die Story um schweinchenmaskierte Spielbank-Gauner und Tukur-Erpresser fast nur Makulatur. Denn die Hauptidee blieb das Verwirrspiel von Realität und Fiktion.
Im furiosen Finale trifft Fiktion auf Realität. Oder doch nicht?
Und so kulminierte der Film schließlich in einer Begegnung von Tukur mit seiner Figur Murot. Murot führte dem völlig verzweifelten Tukur ("Du bist doch ich?") vor, dass es beim Film doch immer heiße, man müsse sich in seine Figur einfühlen. Die habe ein Eigenleben und sei ein eigener Charakter: "Jetzt hast du den Salat, Uli: Ich war immer ein Teil von dir. Jetzt bin ich nur noch ich." Er habe den Unfall verursacht und vertuscht und er, Tukur, habe das nun mal ausbaden müssen.
Auf Tukurs aufgebrachten Einwurf "Du bist doch bei der Polizei" winkte Murot ab: "Ich bin doch nur ein Idee. Mich gibt es nur für den Moment, in dem die Kamera läuft. Davor und danach: Luft." Er habe auch endlich mal ein normales Leben führen wollen. Sprach's und ließ sich von Freund Wuttke zum Bahnhof fahren. Zurück blieb ein verwirrter Uli Tukur und ein aufgekratzter Zuschauer, der bis zur letzten Einstellung des "Tatort" überlegte, inwiefern er hier einer Lüge auf den Leim gegangen war. Oder war es doch die Wahrheit?
Am Schluss fällt eine Klappe. Cut und Aus. Großes Kino!