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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sportexperte Herzog über Jan Ullrich "Er braucht eine Therapie, die er bis zum Ende durchziehen muss"
Auf Mallorca wurde der einstige Spitzensportler Jan Ullrich festgenommen. Sein Freund Til Schweiger hat selbst die Polizei gerufen. Der tiefe Fall des Radprofis wirft viele Fragen auf. Sportexperte Matthias Herzog findet Antworten.
Im Interview mit t-online.de erklärt der Extremsportler und Mentalcoach Matthias Herzog, warum manche ehemalige Top-Athleten nach dem Ende der Karriere Schwierigkeiten haben, in den Alltag zu finden. Und wie Jan Ullrich jetzt geholfen werden kann.
t-online.de: Herr Herzog, was steckt hinter dem Absturz von Jan Ullrich?
Matthias Herzog: Ullrich hatte ja bereits 2002 die ersten in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Probleme mit Drogen, als er mit seinem Autounfall für Aufmerksamkeit sorgte. Diese Probleme scheint er über die Jahre nicht wirklich in den Griff bekommen zu haben. Im Juni 2018 zog seine Frau mit den Kindern aus. Als liebender Vater, der natürlich auch Menschen um sich braucht, die für ihn da sind und ihn lieben, scheint ihm das den Boden unter den Füßen weggerissen zu haben.
In der Öffentlichkeit wurde Jan Ullrich als Radprofi besonders gefeiert.
Ullrich stand über Jahre in der Öffentlichkeit als gefeierter Held. Von Fans und Medien erhielt er große Anerkennung. Solange er diese hatte, ging es ihm gut. Das stärkte sein Ego und Selbstvertrauen. Die Anerkennung fehlte jedoch bereits während seiner aktiven Karriere in den Wintermonaten, wenn er allein für sich trainieren musste und der Fokus nicht so stark auf ihn gerichtet war. Die fehlende Aufmerksamkeit kompensierte er zur aktiven Zeit bereits mit zu viel Essen und Alkohol. Ergebnis: Regelmäßig startete Ullrich in die Saison mit Übergewicht.
Was könnte ihm jetzt helfen?
Ullrich braucht Menschen um sich, denen er wichtig ist und die es ernst mit ihm meinen. Vor allem braucht er eine Therapie, die er mit vollem Einsatz bis zum Ende durchziehen muss. Ullrich hat in seiner Karriere bereits viel Potenzial und Talent verschenkt, weil er Probleme hatte, Dinge konsequent und mit klarem Plan durchzuziehen. Es fehlte ihm die Disziplin und Willenskraft. Jetzt ist er gefragt, an diesen Schwächen zu arbeiten und seine Stärken, nämlich Ausdauer und Kampfgeist einzusetzen.
Ist es für einen Prominenten schwieriger ein gesundes Umfeld aufzubauen?
Als Person in der Öffentlichkeit ist es schwierig, echte Freundschaften zu pflegen. Berater wollen am Sportler mitverdienen, sich im ungünstigsten Fall an ihm bereichern. Es kommen "angeblich" gute Freunde, die ans Geld wollen nach dem Motto: "Ulle, Kannst du mir nicht mal schnell 10.000 Euro leihen." Dazu suchen Menschen die Gesellschaft von bekannten Sportlern, um im Scheinwerferlicht mit zu strahlen. Das heißt, als Person der Öffentlichkeit wirst du schnell ausgenutzt und am Ende mit Füßen getreten und allein gelassen, wenn dein "Stern" nicht mehr so hell leuchtet, weil die Karriere beendet ist oder einem Fehler passiert sind, die das Image ankratzen.
Mentalcoach und Sportexperte Matthias Herzog: Der studierte Sportwissenschaftler und Extremsportler beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit nachhaltiger Motivation und Leistungssteigerung. Er unterstützt Spitzensportler, Nationalmannschaften und Bundestrainer.
Welchen Einfluss haben die Medien?
Die Medien halfen Ullrich damals, über viele Jahre Deutschlands Tourheld zu sein und der ewige Widersacher des umstrittenen Lance Armstrong. Jetzt tragen die Medien durch ihre Berichterstattung entweder dazu bei, dass Ullrich auf ewig als gescheiterter Held in der Versenkung verschwindet oder das Comeback schafft und seine "Tour des Lebens" gewinnt. Am besten mit persönlichem Happyend mit Familie und Kindern.
Ist es typisch deutsch, dass Sporthelden in der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt werden?
Andere scheitern zu sehen, bereitet vielen Menschen in der Gesellschaft "Schadenfreude". Gerade bei Gescheiterten, die uns gefühlt überlegen erscheinen, weil sie erfolgreich, berühmt und reich sind. Da spielt der typische Neid der Deutschen mit rein. Da denken sich dann viele in der Gesellschaft: "Siehst du, das hat er jetzt davon. Da bringen ihm der Erfolg, die Bekanntheit und das Geld auch nichts." Viele Menschen sind dann auch beruhigt. Die sagen sich: "Ha, der hat noch größere Probleme als ich. Das hat der auch verdient." Automatisch geht es uns besser, wenn es anderen um uns herum schlechter geht. Und wenn es Promis sind, umso besser.
Jedoch gilt Jan Ullrich immer noch als gefeierter Rad-Star und hat eine große Fangemeinde. Wie erklären Sie sich diese Beliebtheit trotz der Schlagzeilen?
Wirkliche Fans sehen darüber hinweg, wenn ihre Helden Fehler machen. Sie sagen sich "Jeder Mensch macht Fehler." Und je mehr wir andere Menschen verehren oder gar lieben, desto größere Fehler verzeihen wir ihnen.
Ab wann hat sich abgezeichnet, dass sein Leben eine Wendung einnimmt?
Bereits 2002 bei der Alkoholfahrt mit seinem Sportwagen, verbunden mit dem ständigen Übergewicht in den Wintermonaten, war klar erkennbar, dass Ullrich einige Probleme hat. Da hätte es ihm gut getan, bereits die richtigen Menschen an seiner Seite zu haben. Der Erfolg täuschte darüber hinweg und sein Umfeld nahm es billigend in Kauf. Das zeigt nur wieder sehr deutlich, welches Potenzial eigentlich in Jan Ullrich steckte. Er hätte weitaus häufiger ganz oben stehen können.
Der Dopingfall Jan Ullrich: 1997 gewann der Radprofi die Tour de France – vor ihm und nach ihm hat kein Deutscher diesen sportlichen Triumph geschafft. 2000 folgte das nächste Highlight: Olympiagold in Sydney. Doch dann wurde es eng für den Sportler. 2002 wurde der heute 44-Jährige aufgrund der Einnahme von verbotenen Amphetaminen für sechs Monate gesperrt. Bei einer Kontrolle 2006 wurden erneut Doping-Vorwürfe laut und Ermittlungen eingeleitet. Der Internationale Sportgerichtshof sperrte ihn 2012 für zwei Jahre. 2013 gestand Ullrich mit Eigenblut gedopt zu haben.
Wie ist es nach dem großen Erfolg auf einmal ein komplett neues Leben führen zu müssen?
Es gibt den schönen Satz: "Beruflich Profi, privat Amateur." Davor sind erfolgreiche Menschen in der Wirtschaft genauso betroffen wie Sportler. Gerade Sportlern wird während ihrer aktiven Karriere fast alles abgenommen. Die werden hofiert, gepampert. Die brauchen nicht mal selbst denken. Denn selbst Trainingspläne und Termine werden vorgegeben. Die Sportler werden darüber hinaus noch vom Management gesteuert und werden schon fast wieder zum Kind, das nichts selbst entscheidet. Nach der Karriere sieht das Leben plötzlich ganz anders aus. Jetzt müssen sie wieder selbst entscheiden, ihr Leben planen. Das ist ähnlich, als wenn Sie einem zwölfjährigen Kind plötzlich sagen: "So, jetzt führst du dein Leben selbst."
Wie kann das gelingen?
Die Sportler müssen vor allem ein neues "Warum" finden. Vorher war klar, wofür sie das machen, was sie machen. Jetzt brauchen sie aber neue Aufgaben und einen neuen Sinn im Leben. Wird der nicht gefunden, beginnt der Absturz. Wenn sich die Sportler wie Ullrich dann noch für unbesiegbar halten und denken: "Das geht schon alles gut. Mir kann nichts passieren", wird die Blauäuigkeit schnell zum Problem.
Gibt es Beispiele aus der Sport-Welt, die Sie vergleichen würden mit Jan Ullrich?
Boris Becker ist ein sehr gutes Beispiel, aber über Boris sind keine Drogenprobleme bekannt. International denke ich an Sportler wie Maradona und Mike Tyson.