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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Literaturpapst" Marcel Reich-Ranicki Niemand hat so virtuos gestritten
Am Dienstag wäre Marcel Reich-Ranicki 100 Jahre alt geworden. Der in die deutsche Nachkriegsgeschichte als "Literaturpapst" eingegangene Kritiker und Publizist prägte das Land nachhaltig – besonders mit seiner leidenschaftlichen Lust am Streit.
Er konnte aufbrausend sein, ungezügelt und schroff. Nahm Marcel Reich-Ranicki in seinem "permanentem Protest gegen Langeweile und Mittelmaß" ein Werk ins Visier, er beschoss es scharf – und sein rhetorisches Munitionslager war randvoll gefüllt mit Worten, die den Gegner schmerzhaft in die Knie zwingen konnten. War der Spross einer deutsch-jüdischen Rabbinerfamilie in seinem Element, dann kannte er nur einen Aggregatzustand: energisch. Er war der Großmeister seines Fachs. Der eloquenten, schnörkellosen und bisweilen gnadenlosen Kritik – der Auseinandersetzung, des Streits. Niemand hat in der Nachkriegszeit so virtuos gestritten wie Marcel Reich-Ranicki.
Doch der 1920 in der polnischen 60.000 Einwohner-Stadt Włocławek nord-westlich von Warschau als jüngstes von drei Geschwistern geborene Marcel Reich-Ranicki war bis an sein Lebensende umstritten – sein streitbares Gemüt, seine Schonungslosigkeit und seine Polemik wurden ihm Zeit seines Lebens vorgehalten. Egal wo Reich-Ranicki wirkte, er fühlte sich als Sonderling, Ruhestörer und Außenseiter. In seiner bis heute mehr als 1,1 Millionen Mal verkauften und in über 20 Sprachen übersetzten Autobiographie "Mein Leben" beschreibt er die Außenseiterrolle so: "Von Anfang an fiel ich aus dem Rahmen, ich war ein Außenseiter. Dass es so bleiben würde, konnte ich schwerlich wissen."
Reich-Ranickis Freunde: "Goethe, Heine, Schiller und Shakespeare"
Mit dem Besuch einer deutschsprachigen Volksschule in Polen, in der er wegen seiner frühen Lesekenntnisse die erste Klasse übersprang, nahm dieses Dilemma seinen Anfang. Die Mitschüler der zweiten Klasse blickten mit "Neid" auf ihn, den Herr der Bücher. Mit neun Jahren schickte seine Mutter ihn nach Berlin, seine polnische Lehrerin verabschiedete ihn mit den Worten: "Du fährst, mein Sohn, in das Land der Kultur." Seine Freunde hießen fortan Goethe, Heine, Schiller und Shakespeare – die großen Klassiker der Literatur, sie prägten ihn früh.
Er wurde der beste Deutschschüler der Klasse, machte 1938 sein Abitur und durfte doch nicht an die Universität – als Jude wurde sein Gesuch "abschlägig beschieden". Wenige Monate später deportierten die Nazis ihn nach Warschau. Das Kapitel über die Zeit im Warschauer Ghetto, aus dem ihm 1943 mit seiner Frau Teofila die Flucht gelang, ist die bewegendste und zugleich erschütterndste Schilderung in seinen Memoiren. Ein Jahr vor seinem Tod, 2012, berichtete er vor dem Deutschen Bundestag im "Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus" ein letztes Mal, wie minutiös die Faschisten die Massenvernichtung der Juden organisierten. 15 Familienmitglieder Reich-Ranickis, unter anderem seine Eltern, wurden in Treblinka vergast.
Der für Reich-Ranicki so lebenswichtige Streit entbrannte immer wieder auch an den Fragen des Antisemitismus. Ob beim sogenannten Historikerstreit von 1986 oder bei Martin Walsers Abrechnung im 2002 veröffentlichten Buch "Tod eines Kritikers" – die antisemitischen Tendenzen gegen den sich selbst als "zutiefst unreligiös" bezeichnenden Reich-Ranicki kamen mal unverschämt, mal unterschwellig. Der Kritiker diagnostizierte Walser den "totalen Zusammenbruch eines Schriftstellers" und verweigerte in späteren Interviews Äußerungen zu ihm – ein seltener Moment in Reich-Ranickis Leben, bei dem ihm die Lust am Streit verging. Beim Historikerstreit notierte er in seinen Memoiren den "tiefsten Schmerz" seiner Karriere, weil sein langjähriger Weggefährte, der "FAZ"-Mitherausgeber Joachim Fest, dem Historiker Ernst Nolte eine Bühne für seine fragwürdigen Thesen bot – er "bagatellisierte" den Holocaust als "Kopie der bolschewistischen Schreckensherrschaft", so Reich-Ranicki.
Walsers Rede in der Frankfurter Paulskirche, das Fassbinder-Stück "Der Müll, die Stadt und der Tod", die Begegnung mit Hitlers einstigem Rüstungsminister Albert Speer – antisemitische Demütigungen musste Reich-Ranicki viele ertragen. In "Mein Leben" attestierte er diesen "Provokationen im Sinne des Mottos 'Das Ende der Schonzeit'" einen Zeitgeist, der "das Verhältnis zum Nationalsozialismus" zu revidieren versuche. Die AfD im Bundestag, die "Vogelschiss"-Rede von Alexander Gauland oder das Attentat von Halle musste der 2013 verstorbene Kritiker nicht mehr erleben – doch der Zeitgeist, den Reich-Ranicki bereits 1999 postulierte, er tritt heute stärker denn je zu Tage.
"Die Literatur ist konzentriertes Leben"
Mit entwaffnender Rhetorik würde er heute weiter streiten und dem Judenhass die Stirn bieten. Und doch war er vor allem dann streitlustig, wenn es um Literatur ging und nicht um das menschliche Miteinander. "Die Literatur ist unendlich viel interessanter als das Leben, ist sie doch nichts anderes, als konzentriertes Leben", so Reich-Ranicki. Er veröffentlichte in den Jahren von 1958 – damals kehrte er aus Polen zurück nach Deutschland, lebte erst in Hamburg und später bis zu seinem Tod in Frankfurt am Main – bis ins Jahr 1992 638 Essays und Rezensionen über 226 Autoren, vor allem in der "Zeit" und in der "Frankfurter Allgemeinen". Seine Negativ-Kritiken wurden legendär und uferten in der Publikation "Lauter Verrisse", die um ein Vielfaches erfolgreicher war als seine spätere Sammlung "Lauter Lobreden".
Das harte Urteil – Reich-Ranicki wusste von dessen Reiz und er verdankte ihm seinen Erfolg. Von 1988 bis 2001 beobachteten im Schnitt rund 900.000 Menschen in der Fernsehsendung "Das literarische Quartett", wie er literarische Werke mit Worten zerpflückte als wäre es Unkraut in seinem heiligen Büchergarten. Die leise, die abwägende, die differenzierende Beurteilung war ihm fremd. "Überspitzung ist nötig. Erst wenn man Dinge auf die Spitze treibt, werden sie einsichtig und klar", pflegte der begnadete Sprachakrobat seine Prinzipien der Literaturkritik zu beschreiben.
Das Risiko des Fehlurteils wurde zum einkalkulierten Berufsrisiko: "Die bedeutenden Kritiker erkennt man immer an ihren Irrtümern." Als er 1960 für die "Zeit" über die "Blechtrommel" von Günter Grass schrieb, sie sei "von der Sorte jener geigenden Zigeunervirtuosen, deren effektvolles Spiel das Publikum zu hypnotisieren vermag", aber "sicher kein bedeutendes Werk", schwamm er gegen den Strom der damals einhelligen Meinung, Grass hätte ein Meisterwerk erschaffen. Drei Jahre später revidierte er unter dem Titel "Selbstkritik eines Kritikers" seinen vernichtenden Verriss – eine Gnade, die nur wenige Autoren für sich beanspruchen durften, unter ihnen Heinrich Böll und sein Roman "Billard um halbzehn".
Der folgenschwere Streit mit Sigrid Löffler
Doch sein stürmisches Naturell und die Dispute, die dem entsprangen, sie endeten nicht immer glimpflich. Als Sigrid Löffler, kongenialer Widerpart Reich-Ranickis in "Das literarische Quartett", im Jahr 2000 den Roman "Gefährliche Geliebte" von Haruki Murakami als "literarisches Fastfood" betitelte, platzte Reich-Ranicki derart der Kragen, dass aus dem heute legendären Wortgefecht ein Staatsaffären-ähnliches Beben ausging – es kam zum Bruch der Beiden, 2001 wurde die ZDF-Kritikerrunde eingestellt und erst 14 Jahre später wenig erfolgreich neu aufgelegt.
Die Löffler-Ranicki-Affäre hinterließ Spuren – auch in der Reputation des bewunderten Kritikers. In einem Interview mit dem "Spiegel" ging die österreichische Publizistin mit Reich-Ranicki hart ins Gericht, warf ihm "Macht-Mätzchen" vor und urteilte: "Es war das reinste Lehrstück in Frauenfeindlichkeit." Nicht selten warfen ihm Kritiker vor, er würde die Männer der schreibenden Zunft bevorzugen, was Reich-Ranicki stets vehement bestritt. Unter anderem betonte er, Anna Seghers Roman "Das siebte Kreuz" sei neben "Die Brüder Karamasow" und "Der Zauberberg" die beste Prosa-Veröffentlichung aller Zeiten.
Neid und Missgunst? "Oft habe ich darunter gelitten"
Die Rollenspiele zwischen Mann und Frau, die Scharmützel und der Klamauk machten "Das literarische Quartett" zu einer Unterhaltungsshow. Auch wenn sich Reich-Ranicki diesem Urteil nicht erwärmen konnte, so war er doch ein Unterhaltungsgenie und der geborene Mann für die telegene Bühne. Er sehnte sich nach Anerkennung und die Scheinwerfer ließen ihn strahlen. Bei einer Rede zu seinem 80. Geburtstag im Jahr 2000 nannte er die Gründe für seinen Geltungsdrang: "Der Neid der Kollegen, die Missgunst der Konkurrenten, der Hass der Zukurzgekommenen und die Abneigung vieler Leser – ich habe das immer gespürt, niemals habe ich mich damit abfinden können, und oft habe ich darunter gelitten. Vielleicht hat hier meine Arbeitswut ihren Ursprung – und vielleicht auch mein Bedürfnis nach Anerkennung."
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Neun Ehrendoktorwürden, das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland, der Thomas-Mann-Preis, der Goethepreis und mehr als ein Dutzend weiterer Auszeichnungen wurden ihm zuteil. Doch kein Preis ist so sehr mit dem Namen Reich-Ranicki verknüpft, wie der, den er ablehnte. Als er im Jahr 2008 den Deutschen Fernsehpreis für sein Lebenswerk erhalten soll, betritt er die Bühne und macht den Abend zu einem Meilenstein der TV-Geschichte: "Ich nehme diesen Preis nicht an" wird zum geflügelten Wort. Das Fernsehen erklärt er zum "Blödsinn" und zieht damit wieder einmal nicht nur Lob auf sich – RTL, Sat.1, ARD und ZDF streiten anschließend um den Umgang mit dem Paukenschlag des 88-Jährigen.
"Sowas darf man nicht zeigen" – Reich-Ranicki über "Schwachsinn" im TV
Doch der Streit bei Reich-Ranicki, er enthielt immer auch das Bemühen um einen konstruktiven Kern. Dass er sich eine Woche nach dem Fernsehpreis-Eklat neben Thomas Gottschalk in einer ZDF-Sondersendung mit dem Titel "Aus gegebenem Anlass" setzte und seine Beweggründe darlegte, darf dafür als bestes Beispiel gelten. Die Unterhaltung sei ihm keineswegs fremd, schon Schiller wusste, dass Literatur unterhalten müsse und diesem Prinzip könne er nur zustimmen. Reich-Ranicki störte sich an dem Niveau der Fernsehunterhaltung und auch wenn er dabei Atze Schröder mit Helge Schneider verwechselte, betitelte er die Inhalte als "Schwachsinn" und die Darbietungen als "verblödet". "Sowas darf man nicht zeigen" empörte er sich und blieb damit seiner Lebenslinie treu: sage niemals "jein", urteile immer entschieden, klar und deutlich.
In 100 Jahren hätte sich Reich-Ranicki noch durch dieses kraftvolle Urteilsvermögen ausgezeichnet. Jetzt wäre er 100 Jahre alt geworden, und es bleibt zu sagen: sein Scharfsinn, seine Streitlust, seine Unerschrockenheit – sie fehlen. Das Machtvakuum in der kritischen Auseinandersetzung, es trägt seinen Namen. Oder wie er selbst abschließend sagen würde: "Und so sehen wir betroffen / Den Vorhang zu und alle Fragen offen".
- Eigene Recherchen
- Marcel Reich-Ranicki: "Mein Leben"
- Thomas Anz: "Marcel Reich-Ranicki – Sein Leben"
- ZDF: "Aus gegebenem Anlass"
- Die Zeit: "Auf gut Glück getrommelt"
- Der Spiegel: "Es war ein schwerer Bruch"
- Süddeutsche Zeitung: "Die Aussiedlung hatte nur einen Zweck: den Tod"