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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Neffe von Carsten Lichtlein "Habe mich mit meinem Onkel noch nie über 2007 unterhalten"
Im Januar beginnt für die deutschen Handballer die Heim-Europameisterschaft. Nils Lichtlein ist als einer der jungen Wilden dabei.
Bevor im Sommer 2024 die deutschen Fußballer in die Europameisterschaft im eigenen Land starten, kommen die deutschen Handballer schon im Januar ebenfalls in den Genuss einer Heim-EM. Das Eröffnungsspiel bestreitet das DHB-Team am 10. Januar vor einer Rekordkulisse von über 50.000 Zuschauern im Düsseldorfer Fußballstadion.
Mit einem Sieg will das Team von Bundestrainer Alfred Gíslason den Grundstein für ein erneutes Wintermärchen legen – und damit ihren Vorgängern von 2007 nacheifern, die im eigenen Land den Weltmeistertitel holten.
Eine Parallele zu 2007: Auch in diesem Jahr wird ein Lichtlein im deutschen Kader stehen. Während Carsten Lichtlein vor 17 Jahren als Torwart den WM-Titel feierte, wird sein Neffe Nils Lichtlein bei der kommenden EM in der Mitte des Rückraumes für Deutschland auflaufen. Der erst 21-Jährige von den Füchsen Berlin gilt als das große deutsche Handballtalent, wurde mit der U21 im vergangenen Jahr Weltmeister und dabei selbst als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet. Jetzt will er mit einigen Kollegen aus der U21 auch die Herrenmannschaft aufmischen.
Mit t-online spricht Lichtlein über seinen bisherigen Werdegang, seine Ziele mit der Nationalmannschaft, seinen berühmten Onkel und den Moment, in dem er um seine Karriere zittern musste.
t-online: Herr Lichtlein, ihr Opa war Handballtorwart, ihr Onkel Carsten Lichtlein ist als Torwart sogar Weltmeister geworden. Ist Ihre Familie enttäuscht, dass Sie Feldspieler geworden sind?
Nils Lichtlein: (lacht) Nein. Mein Opa hat Groß- und Kleinfeldspiele gemacht. Bei einem war er Torwart, bei dem anderen hat er auf dem Feld gespielt. Von daher ist das in der Familie auch akzeptiert.
War die Torwartposition denn jemals ein Thema oder war Ihnen von Anfang an klar, dass es Sie auf das Feld zieht?
Nein, ich wollte nie Torwart werden. Ich bin nicht geboren für das Tor. Ich bin nicht groß genug, ich bin nicht verrückt genug, und ich habe es auch wirklich nie probiert.
Mit dem Opa und dem Onkel hört es bei Ihnen noch nicht auf. Auch Ihr Vater und Ihre Mutter waren Sportler. War der Weg in den Profisport für Sie vorgezeichnet?
Vorgezeichnet war er nicht, aber natürlich habe ich schnell Vorbilder in der Familie gehabt, denen ich nacheifern konnte. Es war auch klar, dass ich im Kindesalter Sport machen werde. Ob man dann Profisportler wird, das hängt von anderen Dingen ab.
Sie haben das Thema Vorbilder angesprochen. Was haben Ihre Eltern Ihnen denn mitgegeben, was Ihnen jetzt als Profisportler hilft?
Vieles! In allererster Linie auf jeden Fall den Ehrgeiz, der mir eingetrichtert wurde. Dazu kommen die Disziplin und Hartnäckigkeit, die man braucht. Und das nötige Selbstvertrauen.
Nach den ersten Schritten in Regensburg sind Sie in die Jugendabteilung der Füchse Berlin gewechselt. Warum ausgerechnet Berlin?
Ich hatte mich zu der Zeit schon umgeguckt, weil meine Voraussetzungen in Bayern nicht optimal waren. Meine Eltern mussten mich viel herumfahren. Ich hatte montags in München, freitags in Erlangen und die restlichen Tage in Regensburg Training. Außerdem war die Perspektive nicht so, wie ich wollte. Unsere damalige Männermannschaft hat in der Bezirksoberliga gespielt, und ich wollte zumindest versuchen, Profi zu werden. Dann hatte ich mit der Bayern-Auswahl ein Turnier in Berlin, und danach habe ich einen Anruf von den Füchsen erhalten.
Und Ihnen war direkt klar, dass Sie das Angebot annehmen möchten?
Nein, das nicht. Ich war erst eine Woche in Berlin und habe dort Schule und Training gemacht. Danach bin ich noch eine Woche mit ins Trainingslager gefahren. Dann habe ich mich kurzfristig kurz vor Ende der Sommerferien entschieden, nach Berlin zu gehen.
Sie waren erst 14, als Sie vom beschaulichen Regensburg ins große Berlin gezogen sind. War das in so jungen Jahren ein Kulturschock?
Das denkt man immer, aber der Verein hat einen guten Job damit gemacht, uns hier in Berlin von Anfang an vollumfänglich zu integrieren. Für mich hat sich sowieso alles nur um Handball gedreht.
Fühlen Sie sich in Berlin wohl?
Berlin ist schnell meine Heimat geworden. Ich bin jetzt schon seit 2016 hier. Klar, die ersten Jahre ist alles neu, aber irgendwann gewöhnt man sich daran. Dann lernt man, Berlin zu lieben.
Wie häufig können Sie Ihre Familie noch sehen?
Ich selbst komme nur selten dazu, in die Heimat zu fahren. Meine Eltern besuchen mich aber regelmäßig in Berlin. Die restliche Familie sehe ich selten. Die sind nur bei Familienfesten oder jetzt bei der Junioren-WM in Berlin gewesen.
Nach Ihrer Zeit bei den Junioren haben Sie auch bei den Herren mittlerweile Fuß gefasst. Trotzdem sind Sie im Kreis der Profimannschaft noch neu. Wie nehmen Sie Ihre Rolle zurzeit wahr?
Durch die Verletzung von Paul Drux und Fabian Wiede ist meine Rolle bei den Füchsen deutlich gewachsen. Natürlich wünsche ich keinem meiner Teamkollegen eine Verletzung, aber ich freue mich darüber, jetzt mehr Spielzeit zu bekommen. Nach den vergangenen fünf Jahren wollte ich unbedingt mehr Verantwortung übernehmen, und ich freue mich, dass das bislang so gut funktioniert.
Bei Ihrem Durchbruch geholfen hat auch die Junioren-WM. Mit der deutschen Nationalmannschaft haben Sie den Titel geholt, Sie selbst wurden als bester Spieler des Turniers ausgezeichnet. Was hat sich seitdem für Sie verändert?
In erster Linie mein Selbstvertrauen. Ich hatte im Jahr vor der WM mit einer langwierigen Verletzung zu kämpfen. Da war es nicht selbstverständlich, dass ich zu so guter Form zurückkehre. Die Abläufe auf dem Platz waren nicht mehr so klar, ich habe etwas gebraucht, bis ich meine Bewegungsmuster zurückbekommen habe. Das ganze Spielen, vor allem auch gegen die Gleichaltrigen, hat geholfen, da wieder Fuß zu fassen. Dieses Selbstvertrauen konnte ich jetzt mit in die Saison nehmen.
Sie sprechen die Verletzung an. Es war eine schwere Verletzung. Was hat das mental mit Ihnen gemacht?
Am Anfang wurde es gar nicht als schwere Verletzung diagnostiziert. Deshalb wurde es dann immer schwerer, je länger meine Genesung gedauert hat, und die Hoffnung immer wieder von einem Rückschlag zunichtegemacht wurde. Als es dann hieß, wir müssen es noch mal operieren, hatte ich Angst um meine Karriere. Das ist zum Glück nur eine Angst geblieben.
Sowohl im Verein als auch bei der Nationalmannschaft spricht jeder in den höchsten Tönen von Ihnen. Spüren Sie Druck?
Druck ist das falsche Wort. Ich freue mich über jedes Lob und versuche, dem gerecht zu werden. Klar gibt es Momente, wo man sich wünscht, dass man dem, was über einen gesagt wird, noch besser gerecht wird. Damit muss man aber umgehen können im Profisport.
Blicken wir auf die Nationalmannschaft. Sie durften vor Kurzem Ihre ersten Spiele für die A-Nationalmannschaft bestreiten. Sind Sie schon voll im Team angekommen?
Ich muss sagen, dass mich alle super aufgenommen haben. Im menschlichen Bereich fühle ich mich deshalb auf jeden Fall schon als Teil des Teams. Sportlich habe ich erst zwei Spiele und ein paar Traingseinheiten mitgemacht. Von daher ist es schwer, da eine Antwort zu geben.
Hilft es, dass mit David Späth, Renars Uscins und Justus Fischer einige Ihrer U21-Weltmeister-Kollegen auch mit dabei sind?
Natürlich! Zum einen, weil es natürlich menschlich zwischen uns allen gut lief. Aber auch, weil wir als junge Spieler schneller akzeptiert werden, je mehr wir sind. Es sind aber nicht nur die drei, die mir helfen. Am meisten Zeit verbringe ich eigentlich mit Julian Köster, mit dem ich 2019 schon bei der U19-WM aufgelaufen bin.
Und wollen Sie den älteren Spielern jetzt den Rang ablaufen?
Ich versuche einfach jede Sekunde, die ich auf dem Platz bekomme – egal ob im Training oder im Spiel –, zu nutzen und meine Stärken im Team einzubringen. Ansonsten mache ich mir keine großen Gedanken über meine Rolle. Ich versuche, dem Team einfach zu helfen, wo es geht.
Was sind denn Ihre Stärken?
Vor allem im Eins gegen Eins und beim Spielverständnis kann ich punkten.
Im Januar steht die Europameisterschaft im eigenen Land an. Was bedeutet es Ihnen, im Kader für das Turnier zu stehen?
Ein Turnier im eigenen Land zu spielen, ist der Traum eines jeden Profisportlers. Für das eigene Land im eigenen Land vor Zuschauern aus dem eigenen Land zu spielen, ist etwas Einzigartiges und man weiß nicht, wie oft oder ob man das überhaupt erleben darf in einer Karriere.
Hat es Sie überrascht, dass Sie als so junger Spieler nominiert wurden?
Ich habe mir nicht so viele Gedanken darüber gemacht. Letztendlich war es egal, welche Chancen ich mir ausgerechnet hätte, es lag nicht in meiner Hand. Ich habe einfach versucht, mich auf die Spiele mit den Füchsen zu konzentrieren und meine bestmögliche Leistung abzuliefern.
Sie sind nicht das einzige Mitglied der Familie Lichtlein, das ein Turnier im eigenen Land bestreiten darf. Ihr Onkel Carsten Lichtlein war Teil der Mannschaft, die 2007 den Titel bei der Heim-WM holte. Haben Sie sich mit ihm über seine Erfahrungen ausgetauscht?
Ich habe mich mit meinem Onkel tatsächlich noch nie über 2007 unterhalten, aber ich habe ihn bei dem Turnier damals als Sprössling vor dem Fernseher verfolgt. Das Turnier hat dann den Ausschlag dafür gegeben, dass ich unbedingt Handball spielen oder es zumindest versuchen wollte. Durch das Turnier ist der Beruf Handballprofi zu meinem Traum geworden.
Kommen wir zum Sportlichen. Mit 1,83 Metern sind Sie für Ihre Position in der Mitte des Rückraums recht klein. Glauben Sie, Sie hätten vor zehn Jahren auch schon auf Ihrer Position spielen können, oder sind Sie in eine günstige Ära geraten, in der Trainer experimentierfreudiger sind?
Dass der Handball zu einem schnelleren Sport geworden ist, ist auf jeden Fall wahr. Es gibt jetzt immer mehr Spieler, die nicht mehr ganz so groß sind. Aber auch früher haben schon Spieler wie Ljubomir Vranjes (Körpergröße: 1,68 Meter, Anm. d. Red.) gespielt, und die waren noch kleiner als ich.
Macht sich der Größenunterschied im Herrenbereich noch mehr bemerkbar als bei den Junioren?
Auf jeden Fall! Das Spiel ist deutlich körperlicher, und alle meine Gegenspieler sind gefühlt noch mal zehn bis 15 Zentimeter größer und zehn Kilogramm schwerer. Das ist schon ein großer Unterschied im Vergleich zu den Junioren.
Was tun Sie, um das auszugleichen?
Natürlich mache ich viel Krafttraining. Klar ist aber auch, dass ich keine zehn Zentimeter mehr wachsen werde. Also muss ich mich in anderen Bereichen umso mehr verbessern und zum Beispiel an meiner Schnelligkeit arbeiten. Das Körperliche wird dann mit der Zeit kommen. Je mehr ich mit Männern trainiere, desto mehr werde ich mich daran gewöhnen.
Früher war es auch so, dass viele Handballer ein zweites berufliches Standbein hatten. Auch bei Ihnen war nach der Schule ein Studium ein Thema. Verfolgen Sie diese Pläne noch oder liegt der volle Fokus auf Handball?
Ich habe mit dem Studium des Bauingenieurwesens angefangen, habe das aber jetzt abgebrochen. Das lag zum einen daran, dass es einfach nicht das Richtige für mich war. Zum anderen habe ich mich nach der Verletzung vollkommen auf den Handball und meine Rückkehr auf den Platz konzentriert. Dabei bin ich jetzt erst mal geblieben, bin aber weiter auf der Suche nach einem zweiten Standbein.
Hat auch Ihre Verletzung dazu beigetragen, dass Ihnen die Wichtigkeit eines zweiten Standbeins bewusst wurde?
Ja, ich habe gemerkt, wie schnell so eine Karriere auch zu Ende gehen kann und dass ich gut beraten bin, dann eine Alternative zu haben.
Zum Abschluss eine Prognose: Der Kapitän der Nationalmannschaft, Johannes Golla, hat gesagt, dass er das Halbfinale der EM erreichen möchte. Was ist Ihr Ziel für das Turnier?
Ich finde es auf jeden Fall ambitioniert, aber diese Herangehensweise gefällt mir. Ich glaube, dass die deutsche Nationalmannschaft genug Potenzial für solch ambitionierte Ziele hat, und wenn wir das abgerufen bekommen und uns das Heimpublikum vorantreibt, dann ist alles möglich. Wir sollten in jedes Spiel gehen, um es zu gewinnen. Von daher verstehe ich seinen Ansatz.
- Telefonisches Gespräch mit Nils Lichtlein