Dramen und Derby-Wahnsinn Das waren unsere emotionalsten Sport-Momente
Das Jahrhundertderby, die Heynckes-Rückkehr, die Leichtathletik-WM, der deutsche Doppelsieg bei Confed-Cup und U21-EM – das Jahr 2017 war voller Sport-Highlights.
Dieser Artikel ist Teil unseres Jahresrückblicks. Hier finden Sie alle unsere Jahresrückblicke und Ausblicke auf 2018.
Die Sportredakteure von t-online.de berichten von ihrem emotionalsten Sportmoment des Jahres.
Tobias Ruf
Sonntag, 25. November. Als Wintersport-Reporter verbringe ich den Tag vor dem Fernseher. Schließlich muss ich mich auf die Olympischen Spiele in Südkorea vorbereiten, die ich im Februar 2018 vor Ort verfolgen werde. Dabei habe ich mir ein Event ganz dick im Kalender angestrichen. Den Slalom der Herren. Ich werde live dabei sein, wenn Felix Neureuther seinen großen Traum von einer Olympia-Medaille endlich wahr macht.
Dann der Schock. Push-Mitteilungen, Nachrichten von Freunden und Kollegen – mein Handy steht nicht mehr still. So erfahre ich, dass sich Neureuther bei einem Trainingsunfall in Beaver Creek das Kreuzband gerissen hat. Aus der Traum für den sympathischen Skifahrer, der seine ganze Karriere dem einen großen Ziel gewidmet hat. Wenige Tage später spricht er zwar davon, dass er möglicherweise trotzdem an den Spielen teilnehmen wird, Neureuther gibt seinen Traum nicht auf.
Doch mein Gefühl sagt mir von Beginn an, dass es für Neureuther nicht reichen wird. Zu schwer ist die Verletzung, zu beansprucht ist ein Kniegelenk während eines alpinen Slaloms. Am 15. Dezember dann die Bestätigung. Der 33-Jährige wird nicht an den Spielen in Pyeongchang teilnehmen. Mich persönlich hat das traurig gestimmt – er hätte es so verdient.
Benjamin Zurmühl
Für mich gab es viele emotionale Momente. Das Elfmeterschießen der U21 gegen England im Halbfinale der EM beispielsweise. Doch besonders der Super Bowl im Februar hat mich gepackt. Die New England Patriots gegen die Atlanta Falcons und die wohl größte Aufholjagd der Sport-Geschichte. Ich war zuvor kein Fan von beiden Teams, wollte mich aber zumindest für eines entscheiden. Tom Brady und die Patriots als „FC Bayern der NFL“ in den letzten Jahren bekamen nicht meine Sympathien. In dieser Nacht war ich für die Falcons.
Zusammen mit ein paar Freunden schaute ich das Spiel. Im Hinterkopf die Frühschicht am nächsten Morgen. „Hauptsache keine Verlängerung“, sagte ich. Dann ging’s los. Im ersten Viertel tasteten sich beide Teams ab, nach 15 Minuten gibt es noch keine Punkte. Puuh, da hatte ich mir mehr erhofft. Auf der einen Seite die Atlanta Falcons mit der vielseitigsten und gefährlichsten Offensive der Liga. Auf der anderen die Patriots mit dem vielleicht besten Quarterback aller Zeiten, Tom Brady, und trotzdem noch keine Punkte.
Im zweiten Viertel wurde es dann spektakulär. Atlanta sezierte die Patriots-Defensive nach Belieben, erzielte drei Touchdowns und ließ nur ein Field Goal zu. Nach der Halbzeit ging es weiter. Nächster Touchdown für die Falcons: 28:3. Das Spiel schien nicht mehr zu drehen zu sein. Auch wenn ich mir ein spannendes Spiel gewünscht hatte, war ich auch mit einer klaren Niederlage für die Patriots zufrieden. Doch da machte ich die Rechnung ohne Tom Brady. Denn was danach kam, war einmalig. Die Patriots spielten plötzlich das Feld rauf und runter, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Atlanta fand kein Gegenmittel und schaute dem Gegner mit großen Augen zu.
Kurz vor Schluss erzielte New England den Touchdown, der die Patriots in die Verlängerung rettete. „Das kann nicht sein“, sagte ich und schaue auf die Uhr. Viel Schlaf wird das nicht geben, aber immerhin war das Spiel spannend. In der Verlängerung kam es so, wie es kommen musste. Tom Brady führte sein Team zum Touchdown, der auch gleichzeitig den Sieg bedeutete. Mal wieder ging der Super Bowl an die Patriots. Auch wenn ich für Atlanta war, kam ich aus dem Staunen nicht heraus. Ein unfassbares Ereignis, für das ich die Augenringe gerne in Kauf nahm. Übrigens: Seit dieser Nacht sehe ich Tom Brady nicht mehr als den vielleicht besten Quarterback an. Das „vielleicht“ lasse ich weg.
Luis Reiß
Das waren bestimmt nur irgendwelche Chaoten mit Böllern, denke ich, als am 11. April gegen 19:30 die ersten Eilmeldungen auf meinem Handy eingehen: „Explosionen am BVB-Bus.“ Ich wünsche mir, ich hätte Recht behalten. Denn wenig später ist klar: Der Anschlag auf den Mannschaftsbus, kurz vor dem Champions-League-Spiel gegen Monaco, hätte in einer Katastrophe enden können. Die Sprengsätze waren mit Nägeln gefüllt, die den Bus durchschlugen und die BVB-Spieler brutal verletzen, ja sogar töten sollten. Wie durch ein Wunder wurde nur einer am Arm verletzt – Marc Bartra.
Die Bilder der fassungslosen und schockierten Spieler gehen um die Welt. Mein erster Gedanke: Diese Mannschaft kann in den kommenden Tagen nicht spielen. Doch wenig später wird entschieden: Sie muss – und zwar weniger als 24 Stunden nach dem Anschlag. Das mag den Regularien entsprechen und aufgrund des Terminkalenders kaum anders möglich gewesen sein. Trotzdem erscheint mir diese Entscheidung sofort grausam – und sie hat verheerende Folgen.
Ja, Dortmund verliert das Spiel mit 2:3 und scheidet aus. Doch die wirklich bitteren Szenen spielen sich nach dem Abpfiff ab. Eine zutiefst traumatisierte Mannschaft lässt ihren Gefühlen vor 65.000 Zuschauern freien Lauf. Sokratis, ein knallharter Verteidiger, der auch nach dem härtesten Zweikampf keine Miene verzieht, heult hemmungslos und klagt: „Wir sind doch keine Tiere.“ Bis heute macht mich dieser Sport-Moment wütend. Er ist ein Symbol dafür, wie egal menschliche Werte im Milliarden-Geschäft Fußball geworden sind. Hauptsache, der Rubel rollt.
Guido Heisterkamp
Ich habe mit dem FC Schalke 04 schon viel erlebt – viele Höhen und ein paar mehr Tiefen. Aber die emotionale Achterbahnfahrt am 25. November beim 4:4 in Dortmund werde ich nie vergessen. Ich sitze in der Redaktion und betreue den Liveticker für das Spiel. Vor Anpfiff tippen wir, wie das Derby ausgeht. Ich sage 2:2. Bloß nicht übermütig werden. Als ein Kollege auf 4:0 für Dortmund tippt, muss ich aber doch ein bisschen schmunzeln.
Konoplyanka hat die erste große Chance des Spiels, hätte Schalke in der Anfangsminute direkt in Führung bringen können. Aber dann legt der BVB los wie die Feuerwehr. Nach zwölf Minuten steht’s 1:0 – ok, kann passieren. Noch genug Zeit. Nur sechs Minuten später trifft Stambouli ins eigene Tor – bitter. Nur zwei Minuten später erhöht Götze nach Traumkonter. Ich komm kaum noch mit den Zeilen und Bildern für den Teaser hinterher – innerlich koche ich. Dann macht Guerreiro das 4:0. Ein wütender Schrei entfährt mir. Was ist hier los? Schlaf ich noch und habe einen Albtraum?
Von meinen Kollegen bekomme ich mitleidige Blicke, keiner traut sich, mich zu verspotten. Aber auf meinem Smartphone häufen sich SMS und WhatsApp-Nachrichten voller Häme und Schadenfreude. Halbzeit. Wichtig ist jetzt nur noch, dass Schalke mit Anstand verliert und sich nicht abschlachten lässt. An ein Wunder glaube ich nicht.
2. Halbzeit läuft. Naldos Anschlusstreffer wird nach Videobeweis wegen Abseits zurückgepfiffen – Sch…! Dann trifft Burgstaller. Der Treffer zählt. Ein Funken Hoffnung macht sich in mir breit. Nachdem Harit nur vier Minuten auf 2:4 verkürzt, glaube ich, dass ein königsblaues Wunder möglich ist. Caliguiri trifft per Traumtor zum 3:4. Ich hüpfe und springe durch den Newsroom.
Als Naldo dann in der Nachspielzeit den Ball zum 4:4 per Kopf ins BVB-Tor hämmert, brechen bei mir alle Dämme. Was für eine unfassbar geile Aufholjagd. Aber der emotionale Ausbruch dauert nur kurz, schließlich muss ich das Spiel noch „verarzten“. Zuhause gucke ich mir die Zusammenfassung an diesem Abend allerdings noch zwanzig Mal an – besonders die zweite Hälfte.
Philip Seiler
Samstag, 16.30 Uhr. Dienstschluss meiner Frühschicht in der Sportredaktion. Dortmund führt 4:0 zur Halbzeit im Revierderby gegen Schalke. Das Ding ist gelaufen, denke ich. Die Highlights der 2. Hälfte schaue ich mir dann gemütlich zu Hause an, denke ich und werfe dem Schalke-Fan in der Redaktion, der an diesem Tag das Spiel betreut noch einen mitleidigen Blick zu.
Auf der Heimfahrt in der Ubahn noch mal der Blick auf den Liveticker. Nach 60 Minuten steht es noch immer 4:0 für den BVB. Da wird nichts mehr passieren, denke ich. Zu Hause angekommen, noch einmal der Check. Ich traue meinen Augen nicht. Nachspielzeit, nur noch 4:3 für Dortmund. Hektisch aktualisiere ich den Liveticker und lese zwei Minuten später: TOOOOOOOOOOR für Schalke! Gibt’s doch nicht. Das muss ein Fehler sein. Ist es aber nicht.
Eine Stunde später schaue ich mir gebannt die Spiel-Zusammenfassung auf dem Rechner an. Mir wird klar, dass ich soeben die 2. Halbzeit des geilsten Fußballspiels des Jahres und des verücktesten Revierderbys seit langer Zeit verpasst habe. Hätte ich mal auf Olaf Thon gehört, denke ich. Der hatte am Tag vorher im Interview mit t-online.de noch „das heißeste Revierderby des Jahrzehnts“ ausgerufen. Die „Bild“ setzte nach Abpfiff noch einen drauf und machte das Spiel zum „Jahrhundertderby“. Auch wenn ich die 2. Halbzeit verpasst habe: Für mich war es trotzdem der Sport-Moment des Jahres.
David Digili
Ja, Fußball schauen macht nur in Gesellschaft Spaß – aber für dieses Spiel musste ich mich zurückziehen. In die eigenen vier Wände. Nur ich und Barça (und 96.290 Zuschauer im Camp Nou). Denn nicht weniger als ein Wunder musste her an diesem 8. März im Achtelfinal-Rückspiel der Champions League. Drei Wochen zuvor nämlich lief für meine Katalanen alles schief, was schief laufen konnte. 0:4 im Hinspiel bei Paris St. Germain, eine Demontage.
Dann aber kam dieser Abend von Barcelona. Ich alleine vor dem Fernseher, die Hände eiskalt vor Aufregung, unruhig im Sessel. Warum war der auf einmal so viel unbequemer als sonst? Es ging traumhaft los. Die 3. Minute: Luis Suarez traf per Kopfball zum 1:0! Barça konnte wieder, ganz anders als im Hinspiel. Wach und aggressiv erspielten sich Lionel Messi und Co. Chance um Chance, doch erst fünf Minuten vor der Halbzeit fiel das 2:0 – durch ein Eigentor von Paris-Verteidiger Layvin Kurzawa.
So blieben noch 45 Minuten für drei weitere Treffer. Und es ging wieder perfekt los: PSGs Thomas Meunier foulte Neymar im Strafraum, Messi erhöhte in der 50. Minute bereits auf 3:0. Aber dann kam Edinson Cavani. Der Uruguayer brachte zwölf Minuten später kurzzeitig ganz Barcelona zum Verstummen – und mich an den Rande eines Herzinfarkts: Cavani zimmerte den Ball unhaltbar für Barça-Keeper Marc-André ter Stegen ins Tor und verkürzte für Paris. Nur noch 3:1 – jetzt musste schon ein Sieg mit fünf Toren Vorsprung her, verwünschte Auswärtstor-Regel!
Es folgten die längsten Spielminuten, an die ich mich erinnern kann. PSG zog sich zurück, Barça lief an. Könnten meine Sessellehnen sprechen, sie würden heute davon erzählen, wie ich sie gepiesackt habe mit verzweifelten Schlägen. Noch zehn Minuten. Noch fünf Minuten. Noch drei Minuten. Drei Tore in drei Minuten? Kann doch nicht sein, oder? Kann DOCH sein!
Neymar traf in der 88. per herrlichem Freistoß. Nur noch zwei Tore! Die 90. Minute: Marquinhos foulte Suarez im Strafraum. ELFMETER! Neymar trat an, ließ PSG-Torwart Kevin Trapp keine Chance. 5:1! Nur noch ein Tor – und Schiedsrichter Deniz Aytekin ließ fünf Minuten nachspielen. Barça warf nun alles nach vorne, angetrieben von den 96.290 Zuschauern im Stadion (und einem Berliner im Sessel). Die letzte, finale Szene des Spiels kann ich heute blind nachzeichnen.
Die 95. Minute, Sekunden vor Schluss. Neymar stürmte mit dem Ball nach vorn, flankte noch ein Mal, ein allerletztes Mal direkt an den Fünfer der Gäste. Sergi Roberto war da und grätschte den Ball vorbei am herausstürmenden Trapp vorbei ins Tor. Da war es! Das 6:1! Und AUS! Barça stand im Viertelfinale! Was folgte, klingt meinen Nachbarn wohl noch heute in den Ohren und meinen Freunden aus den Telefonen (sorry dafür!).
Mein Moment des Jahres. Der Tag, an dem der FC Barcelona das Unmögliche schaffte. La Remontada. Die Aufholjagd.
Florian Wichert, Sportchef
Ich bin kein Köln-Fan – aber ich war ein Fan der Geschichte von Peter Stöger bei diesem Verein. Als gefühlt fünfte Wahl kam er 2013 aus Österreich, nachdem alle anderen Kandidaten abgesagt hatten oder durchgefallen waren. Keinen Cent hätte ich darauf gesetzt, dass dieser Mann auch nur eine Saison beim über lange Zeit größten Chaos-Klub Deutschlands überlebt.
Was folgte, war eine unglaubliche Geschichte. Stöger verschmolz mit dieser Stadt und dem Verein. Er führte ihn zurück nach Europa – nach 25 Jahren. Der "Effzeh" durfte auch noch beim FC Arsenal spielen, wie die Auslosung ergab. Unglaublich, diese Gänsehaut-Bilder der Fans aus London. Bis einige randalierten und alles kaputt machten.
Kaputt gemacht haben dann auch die Vereinsbosse das Fußball-Märchen rund um Stöger. Höhepunkt: Die Pressekonferenz, bei der Präsident Spinner und Geschäftsführer Wehrle den Stöger-Rauswurf erklärten und sich dabei um Kopf und Kragen redeten. Verhandlungen mit Beiersdorfer als neuer Sportchef? Der wolle doch vielleicht nur auf den Weihnachtsmarkt in Köln. Die gescheiterte Heldt-Verpflichtung? Alles dessen Schuld. Während im eigenen Verein gerade alles zusammenbrach. Das macht einen selbst als Nicht-Köln-Fan betroffen und sprachlos.
Der Kölner Weg mit kleinen Schritten ist kolossal gescheitert – und beweist mal wieder, dass Im Fußball ein paar Wochen Erfolglosigkeit jahrelange Aufbauarbeit zerstören können. Traurig.