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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschland vor einem Schlüsselspiel Die Wahrheit liegt im Detail: Nagelsmanns versteckte Botschaft
Zum ersten Mal bei dieser Europameisterschaft spielt die deutsche Mannschaft in Dortmund. Die Stimmung auf den Rängen kann fast nur besser werden.
Julian Nagelsmann weiß, wie sehr er im Fokus steht. Als Bundestrainer sowieso und besonders während eines Turniers. Die Bedeutung seiner Rolle übersteigt während einer EM oder WM fast die des Bundeskanzlers. Und so muss der 36-Jährige damit rechnen, dass bei jedem Satz von ihm gut zugehört wird.
Als Nagelsmann am vergangenen Sonntagabend nach dem 1:1 gegen die Schweiz bei der ARD Rede und Antwort stand, hatten es seine ersten Worte in sich. "Ich glaube, wir haben das Stadion aufgeweckt, was wichtig war. Es war davor schon sehr ruhig", kritisierte der Coach mit seinen ersten Sätzen im Interview das Frankfurter Publikum, angesprochen auf das erlösende 1:1 von Niclas Füllkrug in der Nachspielzeit.
Später wiederholte er seine Worte auf der Pressekonferenz – und verlieh ihnen noch mehr Nachdruck. Das Tor sei "auch fürs Stadion wichtig" gewesen, betonte er, ehe er mehrere kleine Kunstpausen machte. "Es war schon ruhig." Pause. "Lange Zeit." Pause. "So ein kleiner Explosionsmoment gegen Ende des Spiels war nicht verkehrt", schloss er seine abermalige Analyse des Frankfurter Publikums.
"Besser geht immer", sagte Nagelsmann schon in Stuttgart
Die versteckten Botschaften stecken bekanntlich im Detail. Aufmerksame Zuhörer werden also Nagelsmanns Kritik zur Kenntnis genommen haben. Vor dem zweiten Gruppenspiel gegen Ungarn hatte er noch betont, die Stimmung nicht vollends bewerten zu können, da er während der 90 Minuten "im Tunnel" sei. Jedoch: "Besser geht immer", lautete schon in Stuttgart die Message des Bundestrainers, als er von t-online auf den Auftakt in München angesprochen worden war.
Nun ist Nagelsmann keiner, der in der Regel vehement die Unterstützung des Publikums fordert. Im Gegensatz zu Vorgänger Flick, der gebetsmühlenartig wiederholte, dass man "die Unterstützung des Publikums" brauche, war die Marschroute Nagelsmanns eine umgekehrte. Frei nach dem Motto: "Wenn wir gut spielen, dann ist auch das Publikum da."
Seit Beginn des Turniers kristallisiert sich jedoch heraus, dass Nagelsmann doch ein wenig mehr erwartet. Insbesondere vor dem Eröffnungsspiel gegen Schottland hatte er eine klare Botschaft an die Fans gerichtet.
"Ich will, dass wir als Land vereint die deutsche Nationalmannschaft nach vorne peitschen, auch im Stadion. Es ist enorm wichtig. Wir müssen den Heimvorteil, den wir haben, auch irgendwie nutzen", appellierte der 36-Jährige: "Deswegen morgen bitte auch laut sein. Ich freue mich zwar, wenn ich die Spieler erreiche. Aber morgen drücke ich auch mal ein Auge zu, wenn es nicht so ist." Es war ein Appell, den er nicht nur an die Fans, sondern auch an die anwesenden Journalisten richtete, was aus der Perspektive der berichterstattenden Zunft maximal mit einem Achselzucken zur Kenntnis genommen werden sollte.
Premiere in Dortmund – und gleichzeitig der Abschied
Nach dem guten Auftakt in München sowie einem stimmungsvollen 2:0 über Ungarn in Stuttgart, sank das Stimmungsbarometer in Frankfurt auf den temporären Tiefpunkt. Wie von Nagelsmann richtigerweise beschrieben, glich die Atmosphäre im Frankfurter Stadion dem eines durchschnittlichen DFB-Spiels vor der Europameisterschaft. Unkreativen, halbherzigen Anfeuerungsrufen folgten minutenlange Ruhepausen. Wer regelmäßig Spiele der Frankfurter Eintracht besucht, insbesondere bei Flutlicht, dürfte sich im falschen Film beziehungsweise im falschen Stadion gewähnt haben. Positiv für Nagelsmann: Nach Frankfurt wird das DFB-Team bei dieser EM nicht mehr kommen.
Wie gut, dass es nun also nach Dortmund geht, für Deutschland zum ersten und definitiv einzigen Mal bei dieser EM. An den Ort, an dem das DFB-Team vor gut neun Monaten den großen Befreiungsschlag nach der Flick-Depression feierte. Das 2:1 gegen Frankreich unter dem damaligen Interimstrainer Rudi Völler wird als stimmungstechnischer Gradmesser gelten für das, was Nagelsmann vom Publikum gegen Dänemark erwartet.
"Unser Ziel war es von Anfang an, Gruppenerster zu werden und in Dortmund zu spielen, egal gegen wen", bekräftigte Sportdirektor Rudi Völler bereits am Donnerstag die Wichtigkeit des Dortmunder Stadions. Schon bei der letzten Heim-WM 2006 diente es als emotionale Hochburg, war es doch sowohl beim 1:0-Last-minute-Sieg gegen Polen in der Vorrunde als auch beim bitteren 0:2 im Halbfinale gegen Italien die Austragungsstätte.
Gegen Dänemark hätte Nagelsmann wohl nichts gegen einen erneuten Polen-Moment. Auch wenn er auf einen Wecker durch einen Treffer in der Nachspielzeit sicherlich verzichten könnte – und sich vollen Support von der ersten Minute an wünscht. Am ARD-Mikrofon wird er sich dann allerdings nicht erklären müssen. Übertragender Sender ist am Samstag – im Free-TV – das ZDF.
- Eigene Beobachtungen vor Ort
- Aussagen von Bundestrainer Julian Nagelsmann in der ARD
- Presskonferenz mit Rudi Völler am 26. Juni 2024 in Herzogenaurach