Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Franz Beckenbauer Ein Sommermärchen, bevor es in Mode kam
Franz Beckenbauer ist tot. Als er 1990 nach dem WM-Triumph mutterseelenallein über den Rasen des Olympiastadions in Rom flanierte, war Deutschland vielleicht so vereint wie nie zuvor und nie seitdem.
Es war einer dieser Momente, von denen du nie vergisst, wie du sie verbracht hast. Sonntag, 8. Juli 1990. WM-Finale in Rom. Deutschland gegen Argentinien. In der 85. Minute hatte Andi Brehme einen reichlich schmeichelhaften Elfmeter gegen das Elfer-Schreckgespenst Sergio Goycochea zum 1:0 verwandelt. Dann ... verschwimmen meine Erinnerungen.
Sie beginnen knapp zwei Stunden vorher, während der Nationalhymnen im Wohnzimmer meines Elternhauses in Müllheim, südlich von Freiburg. Mitsingen? Eher verschämt. Mitfiebern? Aus vollem Herzen! Ich habe rudimentäre Erinnerungsfetzen an etwas mehr als 80 Minuten Bangen, Hoffen, Zittern und rumpeligen Fußball zwischen Deutschland und Argentinien. Dann dieser Elfer. Sensini gegen Völler. Ironie der Geschichte: Wann hat jemals ein Argentinier weniger Foul gespielt als in diesem Moment? Völler sinkt dahin, Matthäus kneift, Brehme zielt ganz genau: Links unten, 1:0, Gerd Rubenbauer und Karl-Heinz Rummenigge schreien ihr "Jaaaaaaaa" in die Ewigkeit der Sportberichterstattung – und für uns gab es kein Halten mehr. "Wann kommt ihr heim?", fragte Papa. Als ob wir das hätten sagen können!
Raus aus den Wohnungen, aus den Haustüren, den Partykellern, vorbei am Marktplatz, an der Winzergenossenschaft, am Bürgerhaus – alles strömte auf die Werderstraße in die kleine Altstadt, wo die Mitte zwischen zwei betagten Kneipen uns allen als der beste Treffpunkt erschien. In diese Richtung bewegte sich unser zielloser Jubel, hier ballte sich unsere Begeisterung, unsere schüchterne Liebe zu einer Nation, die in diesen Monaten neu geboren wurde. Deutschland? Niemand von uns wusste, was das sein soll, was das werden würde. Aber Bodo Illgner, Guido Buchwald, Lothar Matthäus, Andi Brehme, Jürgen Klinsmann, Rudi Völler und ein paar andere hatten gerade ein Sommermärchen geschrieben, lange bevor Sönke Wortmann sich eines ausdenken konnte.
Irgendwo zwischen der Eisdiele, der Bierkneipe "Taberna", der Dorfpinte "Alte Münz" und dem Bürgerhaus stießen wir alle aufeinander: Alle Dorfcliquen, alle Vereine, alle Gruppierungen, die so eine kleine Stadt beherbergt. Fußballer umarmten Handballer, Volleyballer herzten die örtliche Faschingsgruppe, die Freiwillige Feuerwehr war ebenso auf der Straße wie alle Anwohner – und keiner von uns wusste, wohin mit seiner Freude über einen WM-Titel, von dem wir nie zu träumen gewagt hätten.
Es gab kein Internet, keine Handys, keine sozialen Medien: Niemand kanalisierte unsere Freude, kein Algorithmus filterte sie. Und durch die Fenster meiner Lieblingskneipe, der "Taberna", so erinnere ich mich dunkel, habe ich auf dem Röhrenfernseher neben der Bar einen lockigen Schopf gesehen, der einsam über den Rasen des Stadio Olimpico zu schweben schien, während um ihn herum meine ganze Welt vor Freude verrückt spielte: den Kaiser. Dieser Moment war majestätischer als alles, was ich vorher und seitdem an Erhabenheit gesehen habe in meinem Leben.
Ich war 17 an diesem Abend, und ich war dann irgendwann sehr betrunken. Ich weiß nicht mehr viel aus dieser Nacht, aber was keine Euphorie und keine Promille haben auslöschen können, ist dieser Moment, von dem ich wirklich nur ein paar Sekunden habe erhaschen können: Franz Beckenbauer, alleine auf dem Rasen des Olympiastadions in Rom, der einen Moment der Stille suchte in einem Augenblick, der für sein Land die maximale Erregung und Begeisterung bedeutete. Vielleicht war ihm die Situation nur zu viel, vielleicht flüchtete er in diese kurze Einsamkeit, aber für uns, die wir ihn dort gesehen haben, war es ein Moment gigantischer Stille und leiser Größe, den wir niemals vergessen würden.
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Sein Triumph war größer als die alte Bundesrepublik, er sprengte unser aller Grenzen. Zwar spielten nur westdeutsche Kicker in seiner legendären Weltmeister-Mannschaft von 1990, aber die Deutsche Einheit stand unmittelbar bevor. Wir waren wieder wer, hatten aber keine Ahnung, wer das sein sollte. Wir alle standen zwischen verschämter bundesrepublikanischer Freude und noch ungekannter Einheitseuphorie, verwirrt, betört, ebenso ziel- wie schrankenlos.
Wir ahnten in diesen Minuten nichts von deutschem Einheitsfußball, von Kickern aus Dresden und Rostock wie Matthias Sammer, Ulf Kirsten oder Andreas Thom. Und wir hätten uns nicht träumen lassen, dass wir eines Tages mit Sami Khedira, Jérôme Boateng und Mesut Özil über Heimat und Hymne diskutieren würden, bis ein Titel in Brasilien all diese Debatten kurz übertünchen würde.
Er wohl auch nicht, dabei hatte er die große weite Welt des Fußballs kennengelernt, in deren Pantheon wir uns gerade gekickt hatten. Zum Ende seiner Karriere war er als erster deutscher Weltstar in die USA gewechselt, zu New York Cosmos. Es war, als würde heute ein Thomas Müller zum Mond wechseln. Schon damals war er uns allen voraus gewesen. So wie auf diesem Stück italienischen Grün, alleine, an diesem Juliabend in Rom 1990.
Bis heute ist dieser Moment, sind diese einsamen Schritte auf dem römischen Rasen in meinem mentalen Lexikon neben dem Namen Franz Beckenbauer eingebrannt. Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Wie das so ist in diesen großen Momenten, von denen man nie vergisst, wie man sie verbracht hat.
- Eigene Erinnerungen