Fußball international Eine Barca-Legende nimmt ihren Hut
Eine Kolumne von Johnny Giovanni
Einen idealeren Abschied könnte es kaum geben. In seinem letzten Spiel als Trainer des FC Barcelona trifft Josep "Pep" Guardiola im spanischen Pokal-Finale am Freitagabend auf Athletic Bilbao, einen befreundeten Verein. Auf der Bank der Basken sitzt Marcelo Bielsa, eines seiner Vorbilder. Und dann geht es auch noch um einen Titel: den Königspokal. (Lesen Sie auch hier: Die neuen Trikots des FC Barcelona)
Es dürfte also intensiv und angriffslustig, aber doch fair und sportlich zur Sache gehen. So wie es ihm, dem König von Katalonien, gefällt. Als solchen darf man ihn durchaus bezeichnen: Der FC Barcelona ist ja die bekannteste, wichtigste und größte Institution dieses Landes an der Nordostküste der spanischen Halbinsel, das die einen eine Nation nennen, die anderen eine Region.
Messi: "Guardiola für Barca wichtiger als ich"
Und nach seinen vier Jahren als Trainer besetzt Guardiola, zuvor schon Spielmacher und Kapitän, den obersten Platz im Pantheon dieses Vereins. Noch vor Johan Cruyff, dem ersten Ideologen der weltweit gefeierten Spielweise der Katalanen. Vor Lionel Messi, der mit 24 schon Rekordtorschütze ist. Dieser aber sagte: "Guardiola ist wichtiger für den FC Barcelona als ich."
Sieg gegen Bilbao wäre Titel Nummer 14 von 18
Es ist eine Mischung aus Biographie, Persönlichkeit und Können, die den freiwillig scheidenden Coach so einmalig macht. Seine Vita liest sich wie der Traum aller katalanischen Jungs: Guardiola kommt aus einem kleinen Dorf der Umgebung, er durchlief die Jugendabteilung des Vereins und war Balljunge im Camp Nou, bevor er dort zum Star wurde. Er strahlt Klasse aus, Intelligenz, Geschmack und doch auch Demut – eine eher seltene Mischung im aufgeblasenen Fußball-Geschäft, zumal bei einem derart erfolgreichen Trainer. Mit einem Sieg gegen Bilbao hätte Barcelona in seiner Amtszeit 14 von 18 möglichen Titeln gewonnen. Das sind die Zahlen. Und dann ist da noch der Fußball.
Weltweit studieren, interpretieren und kopieren die Kollegen das, was dieser FC Barcelona in den letzten Jahren veranstaltet hat. Er markiert ein Vorher und ein Nachher in der Fußballgeschichte. Man muss bis zum AC Mailand der frühen 1990er Jahre, vielleicht sogar zum Ajax der frühen 1970er oder zum Brasilien zwischen 1958 und 1970 zurückgehen, um ähnlich prägende, innovative Mannschaften zu finden. In eben diesen Traditionslinien verorten die Experten das "Pep Team" einhellig als eines der größten aller Zeiten. Wenn nicht gar als das größte überhaupt.
Guardiola verfeinert Spielsysteme von Cruyff und Rijkaard
Alles schön und gut, möchte man einwenden, aber hat das wirklich so viel mit Guardiola zu tun? Würde nicht jeder halbwegs begabte Trainer aus Messi, Xavi, Iniesta, Piqué und Alves ein spektakuläres Siegerteam formen können? Guardiola selbst hat immer betont, dass den Spielern alles zu verdanken sei, und natürlich hat er großartige Fußballer unter seinen Fittichen gehabt. Dennoch lohnt es sich, noch einmal genauer hinzuschauen. Zum Beispiel auf das, was er vorfand, als er 2008 vom damaligen Präsidenten Laporta in Absprache mit "Guru Cruyff" überraschend und gegen Kritik (zu unerfahren! zu dogmatisch!) vom Trainer der zweiten Mannschaft zu dem der ersten befördert wurde.
Barcelona hatte 2006 unter Frank Rijkaard mit brillantem Fußball die Champions League gewonnen, die spanische Nationalmannschaft 2008 nicht minder sehenswert die Europameisterschaft. Die Grundanlagen waren da. Konkret jedoch übernahm Guardiola ein Team, das seit besagtem Europacupsieg eine beängstigende Dekadenz erlebt und die Saison soeben mit 18 Punkten auf Real Madrid als Dritter beendet hatte. Messi galt als Dribbelkönig, ein Spezialist für die Außenbahn. Xavi war frustriert und kurz vor dem Absprung, weil er seine Vorstellung von Fußball nicht ausreichend einbringen konnte. Und in der Nationalelf, die im Finale von Wien die Deutschen bezwang, standen bloß drei Spieler vom FC Barcelona.
Xavi und Iniesta verdrängen Ronaldinho und Deco
Guardiola traf viele Entscheidungen in diesem Sommer. Als erstes verbannte er Ronaldinho und Deco, das Herzstück der 2006er-Mannschaft, das mittlerweile nur noch in den Diskotheken groß aufspielte. Dafür komponierte er sein Team um die "Zwerge" Xavi und Andrés Iniesta. Er warb hinter den Kulissen so lange für einen Transfer von Sevillas Dani Alves, bis ihm dieser durchaus teure Wunsch erfüllt wurde. Auf der anderen Seite ließ er für wenig Geld einen Ersatzverteidiger von Manchester United einkaufen, der einst in Barcelona ausgebildet worden war: Gerard Piqué. Und gratis beförderte er mit Sergio Busquets und Pedro zwei Spieler aus der B-Mannschaft ins Team. Die drei letzteren, absolute Nobodys zu jenem Zeitpunkt, sollten für Spanien zwei Jahre später das WM-Finale bestreiten; da stellte Barcelona dann sechs von Elfen.
Guardiolas erste beiden Spiele endeten 0:1 und 1:1. Danach schaute sein Barcelona nie wieder zurück. Von Woche zu Woche wurde es spektakulärer, die Standardergebnisse lauteten plötzlich 4:0 oder 6:1. Erst Spanien, dann Europa, schließlich die Welt. Fast jeder Fußball-Fan erinnert sich noch, wann ihn diese Elf zum ersten Mal betört, überrollt, gar sprachlos gespielt hat. Für viele in Deutschland – betroffene Spieler inklusive – kam der Moment, als Barca die Bayern in einer Halbzeit mit 4:0 aus dem Stadion schoss.
"Tiki-Taka" und bestialisches Offensivpressing
Neben einem guten Auge für Spieler und Gruppenführung sowie anerkannten Motivationskünsten brachte Guardiola taktische Neuerungen – er erweiterte den klassischen Kombinationsfußball holländisch-katalanischer Schule um ein ganzes Arsenal automatisierter Passfolgen, auch "Tiki-Taka" genannt, und um ein bestialisches Offensivpressing. Mit dem Ball hatte Barcelona auch früher eine Menge anzustellen gewusst, ohne Ball jedoch immer gelitten. Guardiola sorgte dafür, dass die Zeit ohne Ball auf ein Minimum beschränkt wurde und der Gegner nie geordnet aufbauen konnte. So machte er aus einer spektakulären, aber anfälligen Spielweise einen spektakulären und robusten Stil.
Messi gibt den "falschen Neuner"
Imposant war auch seine Arbeit mit Messi. Der begann bei ihm ebenfalls noch auf dem Flügel, doch im wichtigsten Spiel in Guardiolas erster Saison, dem Champions-League-Finale gegen Manchester United, zog ihn der Trainer plötzlich in die Mitte. Die auf den ersten Blick merkwürdige Maßnahme – Messi misst nur 1,69 Meter – war mitverantwortlich für den Sieg, Messi erzielte sogar ein Kopfballtor. Später bot Guardiola den Weltfußballer regelmäßig als nominellen Mittelstürmer auf, der aber überall auf dem Platz zu finden war. Dieser "falsche Neuner" wird inzwischen gern kopiert. Für Messi hat sich die Position als ideal erwiesen.
Guardiola arbeitete wie ein Alchimist. Er vermischte taktische Ideen aus der Fußball-Geschichte und eigene Präferenzen, bis sie etwas gänzlich Neues ergaben. Womöglich der Höhepunkt seines Schaffens war dabei das Klub-WM-Finale gegen Santos im Dezember 2011. Die von ihm in seiner letzten Saison wiederentdeckte Abwehr-Dreierkette, der "falsche Neuner" und seine konstante Begeisterung für mittelfeldorientierten Passfußball und Dominanz resultierten in einem 3-7-0-System. "Wenn Sie so in Brasilien spielen würden", kommentierte der gegnerische Trainer Muricy Ramalho, "bekämen sie Besuch von der Polizei". Barcelona siegte 4:0.
"Dieses Barca ist nicht unbezwingbar, aber es ist ewig"
In vier Jahren unter Guardiola gewannen die Katalanen zweimal die Champions League, zweimal scheiterten sie im Halbfinale am späteren Sieger Inter Mailand bzw. FC Chelsea. Guardiolas Team wurde jeweils durch eine Verbindung aus ultradefensiver Spielweise und Glück in die Knie gezwungen, dem einzigen Gegengift, das die anderen bislang gefunden haben. Guardiola hat sich darüber nie beschwert, sondern stets gratuliert. Er hat andere Ansätze immer respektiert, er konnte immer verlieren. Er wollte den Fußball von seinen Ideen überzeugen, nicht missionieren.
Jetzt geht er in dem erhebenden Gefühl, sogar verloren haben zu dürfen. Als sein Team im Champions-League-Halbfinale gegen Chelsea ausgeschieden war, bekam es von seinen Zuschauern Standing Ovations. Es war der Applaus für das Werk Guardiolas. Wie der ehemalige Barca-Spieler Belletti an jenem Abend sagte: "Dieses Barca ist nicht unbezwingbar, aber es ist ewig". Im Pokalfinale kann man es sich noch mal anschauen.