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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Abwehr-Ikone Kohler schlägt Alarm "Bei Boateng und Hummels fehlt mir einfach die Konstanz"
Als Spieler ging Jürgen Kohler in jeden Zweikampf, als ob es sein letzter wäre. Im aktuellen DFB-Team vermisst der Weltmeister von 1990 dieses Engagement. Für den Bundestrainer sieht Kohler während der WM in Russland besonders ein Problem.
Jürgen Kohler hat alles gewonnen – WM, EM und die Champions League. 1997 wurde er zudem Deutschlands Fußballer des Jahres. Über ein Jahrzehnt galt der heute 52-Jährige als einer der besten Verteidiger der Welt. Wenn also jemand Ahnung vom defensiven Teil des Fußballspiels hat, dann Kohler.
Im Anschluss an eine Gesprächsrunde zur heute beginnenden WM im Nobelhotel Traube Tonbach im Schwarzwald nahm er sich Zeit für ein Interview. Das Thema: natürlich die Abwehr. Genauer gesagt: die der deutschen Nationalmannschaft vor dem ersten WM-Spiel am Sonntag gegen Mexiko (ab 17.00 Uhr im Live-Ticker von t-online.de).
t-online.de: Herr Kohler, wer ist aktuell der beste Verteidiger Deutschlands?
Jürgen Kohler: Ehrlich gesagt hat mich in dieser Saison niemand richtig überzeugt. Es gab zu viele Höhen und Tiefen bei fast allen Kandidaten – ob durch Verletzungen oder Formkrisen. Für Jogi Löw wird die schwierigste Aufgabe bei der WM sein, das Defensivverhalten des Teams zu verbessern. Besonders wenn sich im Rücken der Abwehr Räume auftun, hat die Mannschaft große Defizite.
Beziehen Sie das besonders auf die Innenverteidigung mit Jérôme Boateng und Mats Hummels, über die Sie in Ihrer Kolumne im "Kicker" geschrieben haben, dass sie nicht mehr die Weltklasseform von 2014 hat?
Das möchte ich nicht an einzelnen Spieler festmachen. Das Team erscheint mir insgesamt einfach oft zu behäbig – was man sich bei einem großen Turnier aber nicht leisten kann. Um auf Boateng und Hummels zu kommen: Bei den beiden fehlt mir einfach noch die Konstanz. Das gilt aber auch für Antonio Rüdiger und Niklas Süle. Und wenn die komplette Innenverteidigung noch nicht auf ihrem Toplevel spielt, wird es für jedes Team schwierig.
Machen Sie sich Sorgen?
Nein. Ich glaube, dass Jogi Löw in den letzten Jahren bewiesen hat, dass er eine Mannschaft auf den Punkt fit machen kann. Er wird die Abwehr schon noch auf Vordermann bringen. Ganz unabhängig davon habe ich den Eindruck, dass viele Spieler es gar nicht mehr gewohnt sind, Zweikämpfe zu führen. Das wird nicht mehr entsprechend trainiert. Um eines klarzustellen: Ich bin niemand, der sagt, dass es im Fußball ausschließlich über Zweikämpfe geht. Aber sie sind natürlich ein wichtiger Teil des Spiels.
Wie kann man diese Defizite beheben?
Ändern kann man das nur auf dem Trainingsplatz. Es gibt dafür bestimmte Übungsformen. Schon bei der Weltmeisterschaft 2014 hat das Team keine optimale Zweikampfführung gezeigt, als Mannschaft allerdings sehr gut funktioniert und so ein Stück weit ausgeglichen.
Fehlt nach dem WM-Titel ein bisschen der Biss?
Ich weiß nicht, ob es am Biss liegt. Entscheidender erscheint mir, dass viele Spieler nicht in Topverfassung sind – körperlich und mental. Im Gegensatz zu heute hat es zwischen 2006 und 2014 wirklich Spaß gemacht, der Mannschaft zuzugucken. Auch wenn Deutschland mal verloren hat, hatte man das Gefühl, dass sie eigentlich die bessere Mannschaft waren. Nach 2014 haben die Leistungsträger dieses Niveau nicht mehr erreicht.
Zurück zur WM 2018: Welches Team hat aus Ihrer Sicht dort die beste Verteidigung?
Die Spanier haben mit Sergio Ramos einen überragenden Mann. Der ist ein echter Vorzeigeprofi und für mich mit Abstand der beste Verteidiger der Welt. Neben ihm spielt mit Gerard Piqué ein weiterer Weltklassemann. Deshalb sehe ich Spanien in dieser Kategorie vorne. Interessant sind aber auch die Franzosen mit Raphaël Varane, der wie Ramos bei Real Madrid spielt und ebenfalls den Unterschied machen kann. Weniger traue ich dagegen den Südamerikanern zu. Die spielen mir zu wenig erfolgsorientiert. Manchmal nutzt es eben nichts, tollen Fußball zu spielen, denn unter dem Strich geht es nun einmal um Ergebnisse.
Sie sprachen Ramos an. Ist er für die Spanier wichtiger als sein Real-Teamkollege Cristiano Ronaldo für Portugal?
Auf jeden Fall. Das hat man auch bei Real Madrid gesehen. Als Ramos dort wegen seiner Verletzung gefehlt hat, war die Mannschaft 50 bis 60 Prozent schlechter. Das ist bei der spanischen Nationalmannschaft genauso.
Seine Spielweise ist allerdings oft ein Ritt auf der Rasierklinge – wie beispielsweise beim Champions-League-Finale gegen den FC Liverpool.
Das ist eben seine Art, Fußball zu interpretieren. Ich sehe da nichts Abfälliges. Aber die Aktion, bei der sich Liverpools Mohamed Salah verletzt hat, war natürlich ein Foul von Ramos. Ob das gewollt war oder nicht, kann nur er selbst beantworten.