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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kimmich – und dann? Löws Dilemma: Die Suche nach der Flügelzange
Sollte Manuel Neuer für die WM ausfallen, stünde mit Marc-André ter Stegen der nächste Hochkaräter bereit. Auf den Außen in der Abwehr ist die Lage weitaus dünner.
Die deutsche Nationalmannschaft bestreitet in den nächsten Tagen die beiden letzten Testspiele vor dem Ende der regulären Saison. In Kürze muss sich Bundestrainer Joachim Löw auf einen erweiterten Kreis an potenziellen WM-Fahrern festlegen. Fast überall findet der 58-Jährige Luxusprobleme vor, nicht so in der Außenverteidigung.
Realistisch betrachtet steht lediglich Bayern Münchens Joshua Kimmich als Mitglied im Nationalmannschaftskader und sehr wahrscheinlich Stammspieler auf der Position des Rechtsverteidigers fest. Er hat sich in recht kurzer Zeit als "Goldstandard" des Rechtsverteidigers entwickelt und wird im Optimalfall eine gewichtige Rolle beim Unternehmen Titelverteidigung spielen. Doch neben Kimmich sollten wohl noch mindestens drei weitere Außen- beziehungsweise Flügelverteidiger die Reise nach Russland antreten.
Aus der Vorauswahl scheiden natürlich Marcel Halstenberg aufgrund seiner Knieverletzung und Marcel Schmelzer aufgrund seines schlechten Standings beim Bundestrainer aus. Übrig bleiben als rein theoretische Kandidaten: Jonas Hector, Marvin Plattenhardt, Philipp Max, Bastian Oczipka, Jannes Horn, Benjamin Henrichs, Mitchell Weiser, Lukas Klostermann, Jeremy Toljan, Tony Jantschke und Pascal Stenzel. Die beiden Erstgenannten wurden von Löw für die anstehenden Testspiele gegen Spanien und Brasilien nominiert. Die Personalien können anhand einer Reihe von Attributen bewertet werden.
Athletik
Der moderne Außenverteidiger muss bekanntermaßen nicht nur viel Raum bespielen und quasi gleichzeitig vorn wie auch hinten Präsenz zeigen, er muss auch mit dem Tempo und der Agilität der vielen talentierten Flügelstürmer umgehen können. Die meisten Bundesliga-Außenverteidiger erfüllen die athletischen Grundvoraussetzungen, aber es gibt gewiss Abstufungen.
Von den deutschen Spielern sind gerade Herthas Weiser und RB Leipzigs Klostermann zwei, die über ihre Geschwindigkeit viel Defensiv- und Offensivstärke entwickeln. Auf der Kurz- und Mitteldistanz ist Klostermann – passend zum Anforderungsprofil der "Rasenballer" – eine echte Waffe und lässt viele seiner Konkurrenten um die Nationalmannschaftsplätze im Schatten stehen.
Weitere Beispiele: Max, Horn
Technik
Der 21-Jährige braucht allerdings auch diese Tempovorteile, um andere Unzulänglichkeiten zu kaschieren. Interessanterweise gibt es gerade mit Henrichs und Toljan zwei Außenverteidiger, die ohne Probleme auf beiden Seiten spielen können, was sich natürlich positiv auf ihre technischen Qualitäten und ihre Bewegungsabläufe auswirkt.
Diese Flexibilität ist ein echter Trumpf, denn sie erlaubt klassische Flankenläufe wie auch diagonales Einrücken ins Mittelfeld, ohne dass sich der Spieler großartig den Kopf darüber zerbrechen muss, wie er sich zu bewegen hat. Wenn Löw einen Außenverteidiger mitnehmen möchte, den er bedenkenlos links wie auch rechts aufstellen kann, dann scheint vor allem Henrichs die passende Personalie.
Weiteres Beispiel: Weiser
Taktisches Verständnis
Was der Leverkusener allerdings nicht unbedingt mitbringt, ist ein ausgeprägtes Verständnis für Abläufe abseits der Flügel. Henrichs ist funktionaler Außenverteidiger. Kölns Hector hingegen hat in der jüngeren Vergangenheit eine wahre Transformation durchlebt. Der 27-Jährige, der nach einer Verletzungspause nun wieder für die Nationalmannschaft nominiert wurde und auch als Favorit auf den Posten des Linksverteidigers gilt, kommt in Köln vermehrt im Mittelfeld zum Einsatz. Vom Sechser bis zum verkappten Halbstürmer hat er schon diverse Rollen ausgefüllt.
Die damit verbundene Verantwortung im Spielaufbau wie auch in der Absicherung des Zentrums fördert seine taktische Weiterentwicklung. Die DFB-Auswahl wird bei der Weltmeisterschaft in vielen Partien den Ballbesitz dominieren und braucht dazu spielstarke Akteure auf allen Positionen. Hector könnte situativ ins Zentrum einrücken oder auch mit Nebenmännern im Mittelfeld rochieren.
Weitere Beispiele: Jantschke, Stenzel
Entscheidungsfindung und Reife
Der größte Konkurrent Hectors um die Linksverteidigerposition scheint momentan Plattenhardt zu sein. Was beide gemeinsam haben: Sie verfügen über eine gewisse Abgeklärtheit. Der Spielstil des 26-jährigen Plattenhardt mag nicht unbedingt spektakulär wirken, aber er macht nur wenige Fehler. Ist ihm eine Situation zu unsicher, wählt er den sicheren Pass.
Erkennt er eventuell eine Lücke, versucht er es mit dem cleveren Zuspiel, statt überstürzt in gegnerische Fallen zu laufen. Löw schätzt den Herthaner wahrscheinlich auch deshalb. Die konstant gute Entscheidungsfindung macht Plattenhardt zu einem verlässlichen Außenverteidiger.
Weiteres Beispiel: Oczipka
Fazit
An der obigen Auflistung wird allerdings auch deutlich, dass es neben Kimmich an einem zweiten "kompletten" Außenverteidiger für die deutsche Mannschaft mangelt. Alle Kandidaten haben einzelne Stärken, die sie eventuell für einen Kader- oder sogar Stammplatz qualifizieren. Löw würde natürlich für die hohen Ambitionen der Deutschen am liebsten ein Komplettpaket aufstellen. So ist das Dilemma des Bundestrainers, dass er Kompromisse bei der Nominierung eingehen muss.