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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche Torjägerin bei der WM Sie hat genug vom Drama
Alexandra Popp ist der Fixpunkt im Angriff der DFB-Frauen. Bei der WM will sie nun den ganz großen Triumph mit einer Mannschaft, in der sie eine besondere Rolle einnimmt – nicht nur auf dem Platz.
Es war ein Fall für Alexandra Popp. Und ein bisschen war sie auch selbst schuld daran, ganz klar. Und wusste es irgendwie wohl schon im Voraus. Direkt an einem der ersten Tage nach Ankunft der deutschen Nationalmannschaft der Frauen im Teamhotel im australischen Wyong gab es einen Schreckmoment: Beim lockeren Training fiel ein Ball "in ein Gebüsch voller Schlangen", wie es Mittelfeldspielerin Sydney Lohmann danach fast ehrfürchtig sagte. "Da bin ich nicht rein."
Stattdessen sei die missliche Lage eben etwas für Teamkollegin Alexandra Popp gewesen – denn die ist schließlich gelernte Tierpflegerin. Dabei hatte "Poppi" im Vorfeld doch selbst mit zur "angespannten Stimmung" beigetragen: "Ich habe mir ein bisschen Zeit genommen, um eine kleine Präsentation über die eine oder andere Tierart zu machen", erzählte die 32-Jährige noch am Frankfurter Flughafen vor dem Abflug auf den beschwerlichen Weg nach "Down Under".
"Koalas, unterschiedliche Arten von Kängurus und natürlich auch über das, was da auf uns zukommen kann – die giftigsten Tiere der Welt." Der Vortrag über Spinnen und Schlangen kam ihrer Beobachtung nach allerdings "nicht so gut an bei den Spielerinnen. Vielleicht habe ich da mehr Angst geweckt als ich wollte", erklärte sie mit einem Augenzwinkern.
"Da habe ich keine Lust drauf"
Wenn die Kapitänin der deutschen Nationalmannschaft ihre Teamkolleginnen am heutigen Montag zum WM-Auftaktspiel gegen Marokko (ab 10:30 Uhr im Liveticker bei t-online) auf das Spielfeld im Melbourne Rectangular Stadium führt, dann muss allerdings nichts geweckt werden. Nicht in ihren Mitspielerinnen. Erst recht nicht aber in Popp selbst.
Denn diese Weltmeisterschaft ist für die 128-malige Nationalspielerin die wohl letzte Chance auf einen ganz großen Titel – und damit auch die letzte Chance, ihre außerordentliche Karriere zu krönen. Über ihre Zukunft in der Nationalmannschaft wird viel diskutiert. Die Befürchtung, Deutschlands beste Torjägerin könnte nach dem Turnier und ihrem 13. Jahr im DFB-Trikot ihre Länderspielkarriere beenden, treibt auch die Medien derart um, dass Popp auf einer Pressekonferenz in Wyong schon leicht angesäuert antwortete: "Da habe ich gerade keine Lust drauf." Sie fühle sich für eine Entscheidung dieser Tragweite "grundsätzlich noch nicht bereit." Stattdessen habe sie "richtig Bock auf diese WM."
Denn bei allen Erfolgen und Meriten ihrer Laufbahn wurden ihr noch mehr Titel durch allerlei persönliche Dramen in fast beängstigender Regelmäßigkeit verunmöglicht.
"Keine Herausforderung" im Mädchenfußball
Popp beginnt beim FC Schwarz-Weiß Silschede im heimischen Ennepe-Ruhr-Kreis mit dem Fußball, spielt dort bis zum Alter von 14 Jahren auch in gemischten Mannschaften. Der "Süddeutschen Zeitung" erzählte sie einmal über ihre Anfänge im Mädchenfußball: "Die konnten überhaupt nicht Fußball spielen. Ich hab Libero gespielt und konnte einfach bis vors gegnerische Tor durchlaufen. Das war keine Herausforderung für mich."
Schon früh entwickelt sie dabei den für sie so typischen Antrieb, die Stärke. "Ich habe einen größeren Bruder. Da musste ich mich als Kind immer mal wieder durchsetzen", erklärte Popp unlängst in "Sports Illustrated". "Ich habe mit vier Jahren angefangen, Fußball zu spielen. Da musste ich mich als Mädchen bei den Jungs beweisen. Da musste ich kämpfen, denn ich wurde immer wieder belächelt. Einige haben gesagt, dass Mädchen keinen Fußball spielen können. Darum musste ich mir viele Dinge erarbeiten."
2007 wechselt sie zum 1. FFC Recklinghausen, verpasst im selben Jahr nur knapp den Aufstieg in die Regionalliga West. Danach wechselt sie zum FCR 2001 Duisburg in die Frauen-Bundesliga, schlägt dabei Berichten zufolge Angebote vom französischen Spitzenklub Olympique Lyon und von sechs anderen Bundesligisten aus. "Ich war in Duisburg beim Probetraining, das war einfach klasse. Beim FCR 2001 gibt es beste Voraussetzungen", sagte sie damals. "Hier stimmt alles, ich wurde sofort mit viel Hallo aufgenommen." Am 7. September 2008 debütiert sie gegen den Herforder SV in der höchsten deutschen Spielklasse, drei Wochen später, beim 8:0 gegen den TSV Crailsheim, erzielt sie ihre ersten Tore, trifft gleich dreimal.
Gala-Auftritte bei der U20-WM 2010
In Duisburg reift sie auch zur A-Nationalspielerin, wird im Februar 2010 von der damaligen Bundestrainerin Silvia Neid das erste Mal nominiert, kommt zu ihren ersten Spielminuten im Länderspiel gegen Nordkorea. Da hatte sie schon für die U-Mannschaften des DFB am Fließband getroffen, unter anderem im Finale der U17-EM 2008 zum vorentscheidenden 2:0 gegen Frankreich. Noch nach ihrem Debüt für die A-Auswahl überragt sie bei der U20-WM 2010. Popp trifft in jedem Spiel, führt die deutsche Mannschaft damit zum Titel und wird für ihre insgesamt zehn Treffer von der Fifa mit dem "Goldenen Schuh" für die beste Torschützin und dem "Goldenen Ball" für die beste Spielerin des Turniers ausgezeichnet.
Zur Saison 2012/13 wechselt sie zum VfL Wolfsburg, für den sie heute noch spielt, holt direkt im ersten Jahr das Triple. Zwei Champions-League-Titel (2013, 2014), sieben deutsche Meisterschaften, zehn DFB-Pokalsiege (zusätzlich zu zweien, die sie bereits mit Duisburg gewinnen konnte), zweimal Deutschlands Fußballerin des Jahres, insgesamt bisher 103 Tore in 198 Spielen – die Stürmerin und der Werksklub aus Niedersachsen scheinen wie füreinander gemacht.
Und doch nehmen bei allen Erfolgen die bitteren Momente zu, gerade in der Nationalmannschaft: Bei der enttäuschend verlaufenden Heim-WM 2011 kann sie sich als Einwechselspielerin nicht auszeichnen, 2013 muss sie ihre EM-Teilnahme wegen einer Knöchelverletzung absagen. Auch die WM 2015 verläuft unglücklich, Popp trifft einzig im ersten Spiel beim 10:0 gegen die Elfenbeinküste, beim 0:1 im Spiel um Platz drei gegen England wird sie nur eingewechselt, kann die Niederlage nicht verhindern.
Großes Drama 2021
Im Jahr darauf erreicht sie den bisher größten Erfolg ihrer DFB-Karriere: Gold bei den Olympischen Spielen in Brasilien. "Es war mein erster Titel mit der Nationalmannschaft, davor war ich verletzt oder wir haben es einfach nicht geschafft", sagte sie Monate später. "Die Olympischen Spiele sind für viele Sportler das Größte, für mich auch. Diesen Erfolg kann mir keiner mehr nehmen. Ich bin unglaublich stolz darauf."
Allerdings: Die EM 2017 in den Niederlanden verpasst sie erneut verletzungsbedingt, bei einem Trainingsspiel kurz vor Turnierbeginn erleidet sie einen Meniskusriss und eine Außenbanddehnung im linken Knie. Bei der WM 2019 in Frankreich führt Popp die deutsche Mannschaft als Kapitänin an, hievt sie mit ihrem Tor im Achtelfinale gegen Nigeria unter die letzten Acht – dort ist dann aber gegen Schweden Schluss. Besonders dramatisch: Durch die Niederlage verpassten die Frauen die Qualifikation für die Olympischen Spiele in Tokio.
2021 nimmt die Dramatik nochmals zu: Ende April zieht Popp sich im
Spiel gegen Duisburg einen Knorpelabriss an der rechten Kniescheibe zu. Erst über zehn quälend lange Monate später kann sie wieder für Wolfsburg spielen, auch aufgrund einiger Rückschläge in der Reha. Ihr großes Ziel schließlich: Die EM 2022. Als sie im April 2022 im Länderspiel gegen Portugal eingewechselt wird, da liegt ihr letzter DFB-Einsatz sogar schon 17 Monate zurück. In dem Moment, als ihr Teamkollegin Svenja Huth die Kapitänsbinde überstreift, ist die Rückkehrerin sichtlich bewegt, lässt ihren Gefühlen nach Abpfiff freien Lauf. "Man sieht mich selten weinen", sagt sie danach, "aber in dem Moment sind tatsächlich die Tränen gekullert."
Gerade steigt die Hoffnung, da infiziert sich Popp im EM-Trainingslager auch noch mit dem Coronavirus. Doch sie schafft es doch noch bis zum Turnier in England, gerade so, auf den letzten Drücker. Und legt dort richtig los: Sie trifft und trifft und trifft, ihre erste Europameisterschaft wird zum Turnier von Alexandra Popp, ein Fußball-Märchen. Die Comebackerin ist in den drei Gruppenspielen gegen Dänemark, Spanien und Finnland erfolgreich, auch im Viertelfinale gegen Österreich trifft sie, das Halbfinale gegen Frankreich entscheidet sie mit ihren beiden Toren im Alleingang. Im Finale gegen die Gastgeberinnen soll es so weitergehen.
Das Schicksal schlägt zu
Doch dann schlägt das Schicksal erneut zu: Beim Aufwärmen verzieht sie nach einem Torschuss das Gesicht, wie auf TV-Bildern gerade noch für eine Hundertstelsekunde zu sehen ist. Der Oberschenkel zwickt, noch von einer Blessur aus dem Abschlusstraining am Vortag. Alles aus. Popp kann im Endspiel nicht auflaufen, ohne ihre Kapitänin verlieren die DFB-Frauen ein dramatisches Finale.
"Im ersten Moment wollte ich in die Kabine flüchten, kurz alles rauslassen", erinnert sich Popp beim NDR. "Am liebsten hätte ich irgendetwas kaputtgemacht. Es ist zunächst einfach alles zerbrochen wie ein Kartenhaus." Und doch besinnt sie sich auf ihre Rolle als Kapitänin: "Ich konnte mich zum Glück relativ gut sammeln, ich wollte ja auch der Mannschaft kein schlechtes Gefühl geben."
Zurück im Vereinsfußball lief die abgelaufene Saison 2022/23 nicht schlecht, mit Wolfsburg gewann Popp erneut den DFB-Pokal, erreichte das Champions-League-Finale Anfang Juni in Eindhoven gegen die Frauen des FC Barcelona. Popp traf zum zwischenzeitlichen 2:0 – doch die Katalaninnen vollbrachten das Kunststück, die Partie tatsächlich noch zu drehen. Wieder nichts mit dem dritten Titel in der "Königsklasse" für Popp und die "Wölfinnen" – und bitterer noch, nach 2016, 2018 und 2020 war es die nunmehr vierte Final-Pleite in Folge.
Sie sei "ziemlich leer, sehr enttäuscht – und ein bisschen wortkarg", sagte Popp danach, die auf dem Spielfeld noch bittere Tränen vergoss und selbst von Barcelonas rührend mitfühlender Weltfußballerin Alexia Putellas nicht getröstet werden konnte. "Wenn du so nah dran bist und das Spiel aus der Hand gibst, dann tut es einfach nur weh."
Bei der WM nun soll es wieder besser laufen. Ganz ohne Drama, aber mit Toren. In der vielleicht letzten Chance. Es ist ein Fall für Alexandra Popp.
- Eigene Recherche
- Sports Illustrated: "Alexandra Popp: 'Ich möchte gegen alle Barrieren im Frauen-Fußball ankämpfen'"
- ndr.de: "EM-Heldin Alexandra Popp: Eine für die große Fußballbühne"
- ndr.de: "Ende des EM-Fluchs: Kapitänin Popp freut sich auf ihre Premiere"
- dfb.de: "Popp: ‘Eine neue Ära mit Jones"