Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Weniger OPs wegen Corona "Es war vorhersehbar. Aber es wurde halt nichts gemacht"

Deutschlands Krankenhäuser sind überlastet: Immer wieder müssen Kliniken Nicht-Covid-Patienten OP-Termine absagen. Was macht das mit den Schmerzleidenden? Ein Betroffener berichtet.
Michael Krauß* schaltet die Kamera ein. Nur schwer kann er sich ein Lächeln abringen. Sein Bruder sollte in der Uniklinik Köln operiert werden – doch dann kam die Absage. Wegen Corona. Im Fall von Krauß' Bruder ist es bereits das dritte Mal. Seit einem halben Jahr wartet er nun schon auf eine dringend notwendige Hüftoperation.
Nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft werden inzwischen rund 75 Prozent planbare OPs in Deutschland verschoben, wie "tagesschau.de" berichtet. Nur so könnten akute Fälle ausreichend versorgt werden. Die Lage sei wirklich zunehmend dramatisch und führe teilweise "auch zu körperlichen und psychischen Belastungen bei den betroffenen Patienten", teilte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, mit.
Die Krankenakte von Krauß' Bruder – und damit sein Leidensweg – wird derweil immer länger. Seit zwei Jahren sitzt er im Rollstuhl. Gehen kann er aufgrund der Schmerzen nicht mehr. Auch für das Pflegepersonal bedeute es einen enormen Aufwand, ihn morgens aus dem Bett in den Rollstuhl zu setzen. "Die Schmerzen sind einfach zu groß", erzählt Krauß. Medikamente würden nur wenig helfen.
Uniklinik Köln verschiebt OP-Termine – alles zurück auf Anfang
Krauß' Bruder ist von Geburt an körperlich und geistig behindert. Gehen konnte er nur mit dem Rollator. "Das war aber nie ein Problem", so Krauß – bis 2019. Da kamen die Schmerzen. Die Ärzte, erzählt er, hätten seinem Bruder zu einer Hüftoperation geraten. Den Termin setzten sie für das Frühjahr 2020 fest. Doch dann kam die erste Corona-Welle und mit ihr die erste Absage.
"Die Operation wurde erst auf den Spätsommer verschoben, dann auf November, aber da kam dann halt die zweite Corona-Welle." Dann sei ein Termin für den Januar 2021 angesetzt worden. "Da war die zweite Welle aber gerade auf dem Höhepunkt, darum ging das dann auch wieder nicht", so Krauß weiter.
Im Sommer, als die Corona-Zahlen niedrig waren, sollte die Operation dann wirklich stattfinden. Michael Krauß und sein Bruder warteten auf einen Termin – doch auch aus dem sollte nichts werden. Sein Bruder stürzte und brach sich den Oberschenkel. Eine andere Operation war nötig. "Ja, und jetzt sind wir wieder genau da, wo wir vor zwei Jahren schon waren", seufzt er. Seitdem warteten sie auf einen weiteren Termin. Mittlerweile sind sechs Monate vergangen.
Krauß: "Alles, was jetzt passiert, war vorhersehbar"
Ob er Verständnis für die Absagen hat? "In der ersten Welle schon", meint Krauß. Und auch in der zweiten Corona-Welle habe es ja gerade erst die ersten Impfungen gegeben. "Aber jetzt in der vierten Welle, die man eigentlich hätte verhindern können, wird es immer ärgerlicher", sagt er bestimmt, die Stirn in Falten gelegt. Natürlich gebe es auch noch andere Patienten, die operiert werden müssten, räumt Krauß ein. "Wird der Krebspatient operiert oder mein Bruder? Das ist eine Entscheidung, die ich nicht treffen wollen würde", betont er.
Doch er ist wütend. Wütend auf die Menschen, die sich noch immer nicht haben impfen lassen, und wütend auf die Politik. "Alles, was jetzt passiert, war vorhersehbar", sagt Krauß. "Jeder, der sich etwas informiert, der wusste das." Das Robert Koch-Institut (RKI) habe regelmäßig über die Lage informiert. "Aber es wurde halt nichts gemacht", kritisiert er, "weil Wahlkampf war, weil Koalitionsverhandlungen waren und weil sich keiner zuständig gefühlt hat".
"Allgemeine Impfpflicht ist mittlerweile unumgänglich"
Verständnis hat er nur für Menschen, die aufgrund sprachlicher Barrieren nicht so gut an die notwendigen Informationen zur Impfung gelangen. "Da muss man schon unterscheiden zu aggressiven Impfgegnern", findet Krauß. Und trotzdem: "Eine allgemeine Impfpflicht ist mittlerweile unumgänglich", stellt der 48-Jährige fest. "Man hat so lange versucht, die Menschen zu überzeugen und es hat nicht geklappt. Wenn alle geimpft wären, dann wären wir jetzt nicht in der Lage, in der wir sind", bedauert er.
Dass er mit seiner Meinung anstoßen könnte, das weiß er. Um sich und seinen Bruder zu schützen, möchte er daher anonym bleiben. Zu groß ist die Angst, dass sein Bruder im Internet zur Zielscheibe von Hass und Hetze werden könnte.
Termin Anfang Januar – "Im Moment sehe ich da eher schwarz"
Vergangene Woche dann ein kleiner Hoffnungsschimmer: Die Uniklinik habe sich bei ihm gemeldet und ihnen einen Termin für Januar 2022 genannt, erzählt Krauß. Wie die Uniklinik Köln auf Anfrage von t-online mitteilt, könne man trotz steigender Zahl an Covid-Patienten "den Regelbetrieb bislang aufrechterhalten". Krauß habe man dennoch nicht garantieren können, dass der Termin für seinen Bruder stattfinden kann.
"Im Moment sehe ich da eher schwarz", gibt dieser zu. Ratlos blickt er vor sich hin. "Noch mal eine Absage, noch mal warten, ein weiteres halbes Jahr diese Schmerzen …", Krauß bricht ab. "Weil man es nicht geschafft hat, die vierte Welle zu verhindern", sagt er leise.
Krauß' Bruder könnte sein Zuhause verlieren
Die Operation, so der 48-Jährige, hängt nun davon ab, ob jetzt "endlich mal reagiert" wird. Doch er rechnet damit, dass der Termin wieder verschoben wird – womöglich bis zum nächsten Sommer. Die Wahrscheinlichkeit, dass sein Bruder nach der Operation dann wieder laufen könne, die sinkt. "Wäre er gleich behandelt worden, dann wäre die Wahrscheinlichkeit auf jeden Fall höher gewesen", sagt Krauß.
Doch es ist nicht nur die Gehfähigkeit, die sein Bruder verlieren könnte. Das Heim, in dem sein Bruder wohnt, ist kein Pflegeheim, sondern ein Wohnheim, erklärt er. "Für Menschen, die bettlägerig sind, ist die Einrichtung nicht ausgelegt." Sollte sich die gesundheitliche Verfassung seines Bruders noch weiter verschlechtern, könnte er sein Zuhause verlieren. "Das wäre für ihn eine absolute Katastrophe. Er ist seit Jahren in diesem Heim und hat dort seine wichtigen Sozialkontakte. Wenn die wegfallen würden, dann wäre das katastrophal", befürchtet Krauß.
Ihm bleibt nur die Hoffnung und das stetige Twittern von aktuellen Informationen des RKI und der Ständigen Impfkommission (Stiko). Für alle, die es noch nicht getan haben, hat Krauß nur einen Appell: "Lasst euch endlich impfen! Hört auf mit dem Unsinn!"
*Name von der Redaktion geändert. Krauß' Bruder selbst ist nicht in der Lage ein Gespräch zu führen, daher hat t-online mit seinem Bruder gesprochen, dem er sehr nahesteht. Sein voller Name ist der Redaktion bekannt.
- Gespräch mit einem Betroffenen
- "tagesschau.de": "Wie andere Patienten leiden"