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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Zombie-Droge" in Köln Breitet sich Fentanyl auf dem Neumarkt aus?
Fentanyl alarmiert Suchtexperten: Eine Droge, mächtiger als Heroin, könnte bald Kölns Drogenszene erschüttern. Der Grund dafür ist eine globale Heroin-Verknappung.
Während ein junges Pärchen mit prall gefüllten Einkaufstüten über den Neumarkt spaziert, entfährt dem Mann vor dem Springbrunnen ein Urschrei. Er trägt abgewetzte Kleidung, sein Gesicht verzieht sich im Schreien zu einer Fratze. Er steht von einer Bank auf, reißt die Hände in die Luft, fixiert das Pärchen und brüllt etwas Unverständliches hinterher. Irritiert geht das Paar weiter, der Mann setzt sich wieder auf eine Bank, greift in eine Plastiktüte neben sich.
Eine ziemlich gewöhnliche Szene an einem sommerlichen Dienstagnachmittag am Kölner Neumarkt, einem bekannten Innenstadtplatz und Verkehrsknotenpunkt. Seit Jahren mischt sich hier Kölns harte Drogenszene mit bürgerlichem Klientel und Domstadt-Touristen.
Gefährlicher als Heroin: Fentanyl
Zumeist wird am Neumarkt Crack und Heroin konsumiert, wie eine Studie zur offenen Drogenszene im Umfeld des Kölner Neumarkts belegt. Doch nach Ansicht von Experten könnte bald ein noch gefährlicheres Opioid seinen Weg nach Deutschland und auch nach Köln finden: Fentanyl. Fentanyl ist ein synthetisches, also künstlich hergestelltes, Opioid und wirkt etwa 50-mal stärker als Heroin. Schon winzige Mengen können zu einer Überdosis führen.
Bei Fentanyl handelt es sich eigentlich um ein Schmerzmittel, das in Deutschland beispielsweise bei Krebspatienten eingesetzt wird. Doch vor allem in den USA wird Fentanyl als Droge missbraucht und hat dort eine regelrechte Pandemie mit mehreren Tausend Toten im Jahr ausgelöst.
Suchtexperte: "Wir wissen, was passieren wird"
Der Grund, warum Fentanyl mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Problem sein wird, ist eine Verschiebung auf dem illegalen Drogenmarkt. "Dadurch, dass die Taliban die Produktion von Schlafmohn, aus dem Heroin gewonnen wird, verboten hat, gibt es eine weltweite Verknappung von Heroin", erklärt Daniel Deimel. Er ist Professor für klinische Sozialarbeit an der katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, beschäftigt sich seit Jahren mit Suchtforschung und Obdachlosigkeit und hat in Köln in der Suchthilfe gearbeitet.
So entstehe eine Versorgungslücke – Opiate wie Fentanyl würden wahrscheinlich diese Lücke schließen, so Deimel. In Irland und Großbritannien gebe es bereits lokale Ausbrüche, in denen dem "handelsüblichen" Heroin sogenannte Nitazene beigemischt worden seien. Ein Opioid, das noch gefährlicher ist als Fentanyl. Deimel sagt: "Wir sind alarmiert" und warnt vor einer neuen Situation auf dem Drogenmarkt. "Allerdings sind wir erstmalig vor einer Lage. Das haben wir im Suchtbereich noch nie gehabt. Wir wissen mit Vorlauf, was passieren wird – dass sich diese Opiate weiter ausbreiten."
Unternehmer: "Kann kein Geschäft in Slum-Umgebung führen"
Walter Schuch ist Unternehmer und betreibt das Sanitärhaus Stortz direkt am Neumarkt. Er ist Gründer der "Bürgerinitiative Neumarkt" und verschickt fast wöchentlich offene Briefe an Pressevertreter und die Stadt Köln, in der er vor der Situation am Neumarkt warnt. Sein letzter offener Brief zeigt Bilder einer Videoüberwachungsaufnahme vor seinem Ladenlokal. Er bezeichnet sich selbst als "Zeitzeuge" und betrachtet die Entwicklung vor seiner Ladentür mit großer Sorge.
"Mein Unternehmen gibt es seit 1860 an diesem Standort", sagt Schuch. "Wir haben hier Kriege überstanden. Aber ich werde meinen Mietvertrag auf dem Neumarkt nicht verlängern, wenn das Drogenproblem nicht gelöst ist." Schuch sagt: "Ich kann kein Geschäft in einer Slum-Umgebung führen." In den vergangenen Wochen und Monaten sehe er mehr Drogenkonsumenten als üblich vor seinem Laden – weshalb er auch Videos seiner Überwachungskamera verschickt habe.
Drogenexperte empfiehlt flächendeckende Testungen
Um die Gefahr besser einschätzen zu können und Konsumenten zu schützen, empfiehlt Experte Deimel flächendeckende Testungen auf Fentanyl in Drogenkonsumräumen. Auch auf dem Neumarkt gibt es einen Drogenkonsumraum. Und tatsächlich: Testungen auf Fentanyl sind in Köln bereits geplant, bestätigt eine Sprecherin der Stadt Köln auf Anfrage von t-online. "Nach den Empfehlungen der Deutschen Aidshilfe werden in Drogenkonsumräumen Fentanyl-Schnelltests eingesetzt, um die von den Konsumenten mitgebrachten Drogen auf die Substanz zu untersuchen", heißt es am Mittwoch.
Noch gebe es die Tests aber nicht. Die Verwaltung sei in Abstimmung zu den rechtlichen Möglichkeiten, erklärt die Stadt. Der Einsatz erfolge derzeit im "Off-label-Use", also außerhalb des durch die Arzneimittelbehörden zugelassenen Gebrauchs und nur in Einzelfällen. Einen flächendeckenden Fentanyl-Test in Drogenkonsumräumen gibt es in Köln also bisher nicht. Das bedeutet: Selbst wenn es ein Fentanyl-Problem in Köln gibt, erkannt werden kann es bisher nicht.
- Telefonat mit Daniel Deimel
- Telefonat mit Walter Schuch
- Anfrage an die Stadt Köln
- Studie zur offenen Drogenszene im Umfeld des Kölner Neumarkts
- hn-nrw.de: "Studie zur offenen Drogenszene im Umfeld des Kölner Neumarkts", abgerufen am 26. Juli 2024
- Eigene Recherche
- Artikel von t-onlne