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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Klinikstreik in NRW "Kollegen, Wertschätzung, Geld" – daran krankt die Pflege
Seit Anfang Mai streiken an sechs Unikliniken in NRW die Pflegekräfte. Ein Krankenpfleger erklärt im Interview mit t-online, wo der Schuh drückt: Zu wenig Leute müssen zu viel Arbeit wuppen, die Wertschätzung fehlt, die Bezahlung ist schlecht, der Anspruch auf freie Tage muss her.
Gesundheits- und Krankenpfleger Ole Sturm ist an der Kölner Uniklinik in leitender Funktion auf den Stationen Stammzelltransplantation, Infektiologie und Hämatologie/Onkologie. Im Interview mit t-online erklärt er, warum er und andere Pflegekräfte aus sechs Universitätskliniken in NRW seit Anfang Mai streiken – und wie eine Pflegekammer helfen könnte, die Situation des Berufsstandes zu stärken.
Herr Sturm, ein kurzer Einblick in Ihren persönlichen Arbeitsalltag vor dem Streik: Was waren die Faktoren, die Sie jetzt zum Streiken veranlasst haben?
Ole Sturm: Man hat immer weniger Zeit für die Patienten, gerade im onkologischen Bereich. Die Gesellschaft wird älter, die Menschen werden zunehmend multimorbide (leiden an mehreren Krankheiten gleichzeitig, Anm. d. Redaktion) und pflegebedürftiger. Sie brauchen deshalb mehr Zuspruch und Zeit. Patienten, die gerade eine Knochenmarktransplantation bekommen haben, sind in einer ganz besonderen Phase und haben viel Redebedarf. Unser Stellenplan ist über die letzten Jahre hinweg gleich geblieben, und wir waren vorher gut besetzt. Das ist schon etwas.
Warum passt die frühere Planung Ihrem Empfinden nach jetzt nicht mehr?
Jetzt sind die Patienten aufwändiger, weil sie mit mehr Vorerkrankungen kommen. Es kommen auch mehr Keime und Resistenzen dazu, die Probleme machen können. In der Infektiologie hetzen die Pflegekräfte wirklich durch die Zimmer. Unter solchen Umständen können die Patienten froh sein, wenn sie täglich gewaschen werden und überhaupt ein Gespräch entsteht. Das belastet einen, das nimmt man mit nach Hause! Man möchte pflegen, wie man es gelernt hat: Sich Zeit nehmen, schauen, ob der Patient sich geschützt fühlt, etwa durch Trennwände zum Bettnachbarn hin, die seine Intimsphäre wahren, zum Beispiel auf dem Toilettenstuhl. Idealerweise fragt man: Wobei soll ich unterstützen, was kann der Patient allein? Oft dauert es lange, Patienten etwas allein machen zu lassen. Deswegen wird viel von der Pflege übernommen, das geht schneller. Dadurch verliert der Patient aber an Ressourcen!
Geld, Freizeit, fehlende Kollegen und die Wertschätzung, die Sie im Beruf erfahren: Was bereitet Ihnen am meisten Bauchschmerzen?
Wenn ich priorisieren soll, lautet die Reihenfolge: fehlende Kollegen – Wertschätzung – Geld – Freizeit. Ich bin trotzdem für den Entlastungstarif, mit dem sich Pflegende über Bonuspunkte das Anrecht auf einen freien Tag erwirtschaften, der nicht gestrichen werden darf. Allerdings sind die Unikliniken selbstverständlich daran interessiert, den Pflegenden möglichst wenig Bonuspunkte zukommen zu lassen, da sie sonst gezwungen sind, mehr Personal einzustellen. Und das kommt ja nicht gerade in Bussen vorgefahren. Bis sich am System wirklich etwas ändert, wird es dauern. Deswegen wünsche ich mir die Pflegekammer!
Die Errichtung der Pflegekammer wurde in der letzten Legislatur beschlossen. Am 31. Oktober werden die Vertreter des Berufsstandes gewählt. Was spricht aus Ihrer Sicht für die Kammer?
Die Pflege hat lange genug den Mund gehalten. Wenn sie einmal etwas sagen darf, ducken sich alle weg. Das ist typisch für die Pflege, schon seit Jahrzehnten. Es ist an der Zeit, selbst Verantwortung zu übernehmen! Wir wollen gerne, dass sich Dinge verändern. Wir müssen unsere Berufsordnung festlegen. Es kann nicht sein, dass beim Pflegeexamen ein Arzt entscheidet, ob jemand für die Pflege geeignet ist. Da müssen wir tun! Es kann auch nicht sein, dass Ärzte Rezepte ausstellen für Pflegebedarf oder über die Einstufung in die Pflegegrade entscheiden. Das betrifft die Pflege, trotzdem sind wir dazu nicht befugt. Deswegen brauchen wir ein politisches Mitspracherecht. Die Politik wird nicht handeln, deswegen müssen wir selbst für uns sprechen, und zwar an den großen Tischen, zum Beispiel im Gemeinsamen Bundesausschuss.
Mit der Verkammerung des Berufsstandes wird ein Pflichtbeitrag verbunden sein. Laut Errichtungsausschuss wird er voraussichtlich bei fünf Euro im Monat liegen, sobald die öffentliche Anschubfinanzierung der ersten Jahre verbraucht ist. Einige Pflegekräfte lehnen die Kammer wegen des Pflichtbeitrages ab. Was sagen Sie solchen Kolleginnen und Kollegen?
Ich würde sogar noch mehr zahlen! Ich finde den Betrag okay, das kann sich eine Pflegekraft durchaus leisten. Natürlich ist eine Verkammerung immer mit Zwang verbunden. Das ist aber nur deshalb ein großes Thema, weil es jetzt eine Änderung bedeutet. Wäre die Kammer einfach schon dagewesen, wäre sie für jeden, der in den Beruf geht, eine Selbstverständlichkeit. So ist es bei anderen Kammerberufen auch. Wenn wir bei den Playern mitspielen wollen, müssen wir auch investieren.
Hätte es auch Vorteile für die Patienten, wenn die Pflege durch eine Kammer organisiert wäre?
Ja. Auf kurze Sicht mag das noch nicht spürbar sein, aber auf lange Sicht wird die Pflege dadurch selbstbewusster. Wir werden dann dafür sorgen, dass mehr Pflegekräfte eingesetzt werden, da kommt das System nicht drum herum. Die Ausbildungsstruktur wird dann von uns selbst entworfen und verfasst. In der Pflegekammer sollen auch Praktiker sitzen, also Leute, die Ahnung vom Alltag haben und sagen können, was am Bett fehlt. Damit ist man wesentlich näher am Bedarf, als wenn Politiker oder Ärzte solche Fragen entscheiden, und das ist für Patienten natürlich von Vorteil.
Herr Sturm, vielen Dank für das Interview!
Was ist die Pflegekammer?
In der letzten Legislatur entschied die Landesregierung die Errichtung einer Pflegekammer in NRW. Ein Ausschuss baut die Kammer derzeit auf. Alle Pflegepersonen, die nach dreijähriger Ausbildung das Examen abgelegt haben und in NRW wohnen, sind zur Mitgliedschaft verpflichtet und können am 31. Oktober 2022 ihre Vertreter wählen. Die Pflegekammer dient der beruflichen Selbstverwaltung – wie Ärztekammern, Rechtsanwaltskammern und Apothekerkammern. Sie definiert die Normen ihres Berufes und ist automatisch Mitglied politischer Entscheidungsgremien, zum Beispiel bezüglich der Landeskrankenhausplanung. Das unterscheidet sie von Gewerkschaften, deren Blick vorrangig auf Tarifverhandlungen liegt. In NRW gibt es mindestens 245.000 Pflegepersonen: So viele wurden dem Kammererrichtungsausschuss bislang über die Arbeitgeber benannt. Neuere Zahlen gingen aber von über 270.000 Personen aus, so die Ausschussvorsitzende Sandra Postel.
- Gespräch mit Ole Sturm
- Gespräch mit Sandra Postel, Vorsitzende des Errichtungsausschusses der Pflegekammer