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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Naturkatastrophe in der Türkei "Jeder kennt jemanden, der beim Erdbeben umgekommen ist"
Die Erdbeben in der türkisch-syrischen Grenzregion zählen schon jetzt zu den schlimmsten Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte. Ein Notfallsanitäter aus Frankfurt hat vor Ort geholfen – und berichtet von dramatischen Schicksalen.
Ahmad Fraz ist jemand, der vor allem eines will: helfen. Er fährt in Frankfurt beim Arbeiter Samariter Bund (ASB) im Rettungswagen. Kurz nach seiner erfolgreichen Prüfung zum Notfallsanitäter ist er in die Türkei gereist, um denen zu helfen, die alles bei den Erdbeben verloren haben und schwer verletzt wurden.
"Ich bin noch nie geflogen, war noch nie in dieser Gegend und wusste nur, dass Hilfe gebraucht wird", erzählt der 27-Jährige, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt, sich gegen 23 Uhr alleine einen Mietwagen am Flughafen zu nehmen und in die Nähe von Antakya in der Provinz Hatay zu fahren. "Es war gespenstisch. In fast keinem Haus war Licht. Der einzige Mensch auf der Straße war ich", erinnert er sich eine Woche nach seiner Rückkehr aus der Zeltstadt mit 2.500 Menschen.
Dramatische Eindrücke von vor Ort
Vor seiner Abreise wurde er vor Überfällen gewarnt – doch das hat Fraz nicht abgehalten. Er setzte sich in Frankfurt mit der 1995 in Großbritannien gegründeten Organisation Humanity First in Verbindung, die er schon kannte, als er vier Tage im Ahrtal war, um Essen für die Bundeswehr zu verpacken. Ebenfalls ehrenamtlich noch während seiner Ausbildung. "Auch damals hat mich mein Chef gehen lassen, obwohl Rettungskräfte so knapp sind. Er hat auch jetzt sofort zugestimmt, weil er gemerkt hat, wie wichtig es mir ist, auch im schlimmsten Fall zu helfen."
Was Fraz nach der ersten kalten Nacht in einem kleinen Zelt, das er mit zwei weiteren Ehrenamtlichen teilt, sieht, ist schlimm. Ein Container ist aufgeteilt für je einen internistischen und einen chirurgischen Behandlungsplatz. Überall Kinder, Männer und Frauen mit schweren Verletzungen, Brüchen und Wunden, die geduldig warten und trotz allen Leids dankbar sind. "Dankbar dafür, dass sie leben. Jeder kennt jemanden, der beim Erdbeben umgekommen ist", weiß Fraz, der sich gemeinsam mit anderen um die Patienten kümmert.
"Es gab unter dem Schutt nur sie, Staub und kein Wasser"
So etwa um eine Frau, die an Panikattacken leidet. Als es bebte, hat sie ihre zwei Kinder geschnappt und das Haus verlassen. Die Nachbarin war hinter ihr im Treppenhaus. Die Frau mit ihren Kindern hat es im letzten Moment rausgeschafft. Über der Nachbarin brach das Haus zusammen. Sie ist gestorben. Wenn die Überlebende die Augen schließt, sieht sie das Bild des Einsturzes und ihre Nachbarin. Fraz berichtet von einer anderen Frau, die große Wunden hat. "Als das Beben losging, lagen die beiden Söhne im Bett. Sie wollten zu den Eltern und stürzten auf dem Weg. Der große Hund hat sich auf die Kinder gelegt, die Decke stürzte herab. Der Hund Jack hatte schlimme Frakturen, die Kinder blieben unverletzt. Alle haben überlebt. Das ist so krass."
Der Notfallsanitäter erzählt ruhig und sanft, so wie er auch im Rettungsdienst mit Patienten umgeht. Dennoch ist er tief bewegt von den Eindrücken und dem, was er gesehen hat. "Ich durfte acht Tage lang eine Frau behandeln, die mit ihrem Mann und ihrer zweijährigen Tochter Alya 70 Stunden unter Trümmern lag. Auf einem Quadratmeter waren sie eingeklemmt. Der Mann hatte das Kind im Arm. Sie konnten sich nicht umdrehen. Der Vater hat mehrere gebrochene Wirbel, einen gebrochenen Unterarm und einen Unterschenkelbruch. Er hat mir erzählt, dass er viel geweint hat und den Mund des Kindes an die Tränen in seinen Augen gehoben hat. Es gab unter dem Schutt nur sie, Staub und kein Wasser. Sie dachten, sie würden sterben, aber sie wurden gerettet."
"Diese Traumata sind nicht mit einem Verkehrsunfall zu vergleichen"
Fraz fragt sich, ob diese Menschen jemals wieder in einem Haus schlafen können nach den entsetzlichen Ängsten, Schmerzen und Erlebnissen. "Diese Traumata sind nicht mit einem Verkehrsunfall zu vergleichen", sagt der Helfer, der viel gesehen hat und sich mehrfach in der "Spiegel TV"-Serie "Notruf Frankfurt" als Rettungssanitäter im Einsatz gemeinsam mit seinem Kollegen Chris Grüne über die Schulter hat blicken lassen.
Nur vier Wochen nach seiner Prüfung zum Notfallsanitäter musste Fraz alles, was er während drei Jahren an Puppen und Dummies gelernt hat, situativ anwenden. "Es gab keinen Notarzt. Ich musste am ersten Tag eine leblose Frau reanimieren. Sie kam zurück", sagt er lächelnd.
Ein Mann hatte eine schwere Kopfwunde. Fraz war gerade mit einem Kardiologen zusammen. "Er hatte das noch nie gemacht. Ich habe es in der Ausbildung an Schweineherzen gelernt. Dann habe ich meinen Mut zusammengenommen, den Patienten angelächelt und die sechs Zentimeter lange Wunde getackert. Die Wunde ist gut verheilt", sagt er bescheiden. "In Frankfurt hätten wir ihn in die Klinik gefahren. In der Türkei ging das nicht. Die nächste Klinik war viel zu weit weg."
Gemeinsam mit anderen Helfern aus ganz Europa hat er unzählige Stunden geholfen. In der knappen Freizeit hat er mit den Kindern gespielt. "Es war so schön zu sehen, dass sie die Katastrophe verdrängen können und unbefangen Volleyball spielen. Ich habe sie alle ins Herz geschlossen."
Lage schlimm, doch Gastfreundschaft "enorm"
Trotz der bitteren Armut, der Verletzungen und Traumata und obwohl diese Menschen alles verloren haben, sei die Gastfreundschaft enorm gewesen. "Sie wissen, dass sie nicht in ihre Wohnungen zurückkehren können, sofern sie überhaupt noch stehen. Alle sind komplett einsturzgefährdet. Es gibt kein Geschäft, keine Arztpraxis. Nur eine Geisterstadt voller Trümmer. Dennoch haben die Leute Brot mit mir geteilt, und die Kinder wollten mich gar nicht mehr gehen lassen. Der Abschied von ihnen war so schwer", sagt er leise.
Ahmad Fraz ist wieder mit dem Rettungswagen in Frankfurt unterwegs und hilft. Eines weiß er sicher. "Ich fahre noch einmal dorthin. Es wird so viel Hilfe gebraucht und es kommt so wenig an."
- Gespräch mit Ahmed Fraz