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Medikamententests in NRW: "Man hat mich ruhiggestellt und Medikamente getestet"


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Psychopharmaka-Missbrauch in Kinderheim
"Man hat mich ruhiggestellt und Medikamente getestet"


Aktualisiert am 22.08.2022Lesedauer: 3 Min.
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Das Franz Sales Haus in Essen ist heute ein Wohnheim für Menschen mit Behinderung: Bis in die 70er-Jahre hinein wurden dort Medikamente an Kindern getestet. (Archivbild) (Quelle: imago stock&people)
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In den Nachkriegsjahren sind in einem Essener Kinderheim Medikamente missbräuchlich eingesetzt worden. Ein Betroffener berichtet von dem üblen Vorgehen.

Es klingt wie aus einem Gruselfilm, doch leider ist es die nackte Realität: In einem früheren katholischen Kinderheim in Essen, dem Franz Sales Haus, verabreichte Heimarzt Dr. Waldemar Strehl den Kindern ab Ende der 50er-Jahre bis hin zu den 70ern Psychopharmaka zum Ruhigstellen, zur Strafe und zum Testen für die Pharmaindustrie. Heute ist das Haus eine Einrichtung für Menschen mit Behinderung.

Josef R. wohnte damals in dem Heim in Essen und ist mutmaßliches Opfer des jahrelangen Medikamentenmissbrauchs an seiner Person. Heute ist er 70 Jahre alt, aber seine Vergangenheit hat ihn nicht losgelassen. Seine leiblichen Eltern hat R. nie kennengelernt. Auch die genauen Gründe, warum er schon kurz nach seiner Geburt ins Säuglingsheim kam, kennt er nicht. Einige Zeit verbringt er bei Pflegeeltern, doch als es in der Familie einen Todesfall gibt, kann R. nicht bleiben.

Betroffener: Vergangenheit hat mich nie losgelassen

"Als Sechsjähriger bin ich 1958 ins Franz Sales Haus gekommen", erinnert er sich. Die Bilder von dem Schlafsaal, in dem er sich so unwohl fühlte, hat er noch gut in Erinnerung. "Ich wollte immer raus, ich wollte ein eigenes Leben", sagt R. Doch damals – keine Chance. R. wächst in dem Glauben auf, seine Mutter sei tot. Jahre später erfährt er, dass sie noch lebt.

Erst rückblickend bekommt seine Biografie schärfere Konturen. So auch in Bezug auf die Tabletten, Pillen und Spritzen, die er erhielt. "Man hat mich ruhiggestellt und Medikamente getestet", weiß er heute. Damals zählte es in vielen staatlichen und kirchlichen Heimen zur Routine, Kinder und Jugendliche mit Medikamenten zu disziplinieren, die neuen Mittel galten in der Heimerziehung als Fortschritt.

Sozialminister Laumann: "Dunkles Kapitel unser Landesgeschichte"

Viele der Heimkinder aus Essen hatten sich erst getraut, über ihr Schicksal zu sprechen, als erste Studien zu den Vorfällen aufkamen. Der Fall im Franz Sales Haus ist nur ein kleiner Mosaikstein in einem wahnsinnigen Konstrukt systematischer Vergehen in Kinderheimen in ganz Nordrhein-Westfalen.

Sind wehrlose Heimkinder in den Nachkriegsjahren mit Medikamenten ruhiggestellt worden und als Versuchskaninchen für die Pharmaindustrie missbraucht worden? Dieser Frage geht eine Studie nach, die die Landesregierung in NRW beauftragt hat. "Das dunkle Kapitel unserer Landesgeschichte muss aufgeklärt werden", kündigte NRW-Sozialminister Karl-Josef-Laumann (CDU) die Aufklärungsarbeiten Anfang Juli an. Bisher vorliegende Forschungsergebnisse und Erlebnisberichte damaliger Opfer belegten demnach bereits in vielen Fällen, dass Kindern und Jugendlichen unsachgemäß und missbräuchlich Medikamente verabreicht wurden.

Tabletten wurden ins Essen gemischt

Das Franz Sales Haus hatte in der Folge selbst eine Studie veranlasst, die in den Archiven Belege dafür fand, dass mehr als der Hälfte der Kinder Psychopharmaka verabreicht wurde.

"Tabletten wurden ins Essen gemischt", erinnert sich der Betroffene R. Täglich habe er in irgendeiner Form Medikamente bekommen. Warum, das hat man ihm nicht erklärt. "Ich habe mich nur immer gewundert, warum ich so müde war", sagt R. heute. Andere Kinder im Heim hätten auch Spritzen bekommen, seien mit Ultraviolett-Licht bestrahlt worden.

"Ich hatte keine Ahnung, dass mir Unrecht geschieht – ich war ein Kind", sagt der 70-Jährige. Erst, als es Medienberichte zu Medikamententests und missbräuchlichem Medikamenteneinsatz gab, dämmerte ihm: "Das ist auch mir passiert."

Schläge und Einzelhaft in schalldichten Zellen

Heute hat sich R. der "1. Community" angeschlossen, die für die Rechte der Betroffenen kämpft und sich für Entschädigungszahlungen einsetzt. Manche davon liegen schon bei Gericht. Viele Betroffene sind bis heute durch die Erlebnisse traumatisiert. Ob körperliche Beeinträchtigungen mit der damaligen Medikamentengabe zusammenhängen, weiß R. nicht. "Ich habe immer noch offene Fragen", sagt er.

Als Kind habe er sich ruhig verhalten, um Strafen zu vermeiden oder wieder in eine andere Einrichtung geschickt zu werden. Andere Betroffene, die im Franz Sales Haus untergebracht waren, berichten von Schlägen und Einzelhaft in schalldichten Zellen. Manche von ihnen hatten Nebenwirkungen wie Selbstmordgedanken und Wahnvorstellungen.

Betroffene fordern Respekt und Anerkennug

Die vom Land in Auftrag gegebene Studie soll nun herausfinden: Haben Eltern und Jugendamt den Medikamentengaben zugestimmt? Wieso oder wieso nicht? Ziel ist es, Verantwortliche auch auf staatlicher Ebene zu benennen. Dafür werden die Forschenden Interviews mit Zeitzeugen führen und historische Dokumente von Behörden, Pharmaunternehmen sowie wissenschaftliche Veröffentlichungen auswerten.

Ergebnisse werden 2024 erwartet. "Das hat etwas mit Respekt und Anerkennung zu tun", sagt R. Sein Schicksal könnte für viele Kinder und Jugendliche aus der Nachkriegszeit stehen.

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