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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ehrenamt mit vielen Problemen Tierretter: "Wir opfern alles, was wir haben"
Steven Giese ist Wildtierretter und Gnadenhofbetreiber. Warum er dafür nicht nur Dankbarkeit erfährt und ihm die Berliner das Leben besonders schwer machen.
Als einem Kranich von einer Windkraftanlage beide Beine abgetrennt wurden, waren Steven Giese und sein Team sofort zur Stelle. Vier Stunden dauerte es, bis sie das panische Tier, das immer wieder versuchte, wegzufliegen, endgültig eingefangen hatten. Solche Erlebnisse bleiben im Gedächtnis, sagt Giese. Der gebürtige Berliner betreibt seit mehr als zehn Jahren mit seiner Frau Sanny einen Gnadenhof in Oranienburg und organisiert die Wildtierrettung in der Region.
Das Ehepaar lebt in einem Haus auf dem Gnadenhof – um die Tiere nie aus den Augen zu lassen, sagt Giese. Die beiden haben ihr Leben dem Tierschutz verschrieben. "Wir opfern alles, was wir haben." Applaus oder Schulterklopfen wollen er und seine Frau dafür nicht. Sie haben sich bewusst für dieses Leben entschieden. Doch nicht immer wird ihnen der nötige Respekt entgegengebracht.
"Hier arbeiten alle ehrenamtlich", sagt Giese, der es sich auf einer Holzbank im Garten des Gnadenhofs gemütlich gemacht hat. Zwei Katzen liegen auf dem Holztisch und genießen die Sonne. Der Hof ist umgeben von blühenden Feldern, die Luft ist rein. Im Hintergrund wird gearbeitet. Doch hinter der perfekten Bauernhofidylle verbergen sich viele traurige Tierschicksale und Menschen, die in ihrer Freizeit hart dafür arbeiten, diesen Tieren ein besseres Leben zu ermöglichen.
Gnadenhof & Wildtierrettung Notkleintiere e.V.
Neben der Wildtierrettung betreiben Steven und Sunny Giese einen Gnadenhof für behinderte, alte, schwerkranke, misshandelte und vernachlässigte Tiere. Auf dem Hof leben etwa 80 Tiere, darunter Hühner, Gänse, Enten, Katzen, Hunde und Schweine. Diese Tiere bleiben bis zu ihrem Tod auf dem Gnadenhof. Wildtiere werden ausgewildert, sobald sie wieder gesund sind. Auf dem Gnadenhof werden keine Führungen angeboten.
Tierschützer sind untereinander stark vernetzt
In der Hochsaison haben die Wildtierretter alle Hände voll zu tun. In den Monaten April, Mai und Juni bekommen die meisten Wildtiere Nachwuchs – und immer mehr dieser Jungtiere brauchen Hilfe. Zwischen 90 und 120 Einsätze haben die Wildtierretter derzeit pro Tag. Das können Küken sein, die aus dem Nest gefallen sind, Wildtiere, die sich in einen Hausflur verirrt haben, oder Tiere, die schwer misshandelt zurückgelassen wurden.
Giese und sein Team stehen in ständigem Kontakt mit rund 30 weiteren Pflegestellen in Berlin und Brandenburg. Manche kümmern sich nur um Eichhörnchen, andere um Vögel oder Marder. Hinzu kommt der Austausch mit den Tierheimen in der Region, mit Tierärzten, der Feuerwehr und der Polizei.
Drei Einsatzleiter nehmen fast rund um die Uhr Anrufe von Personen entgegen, die ein verletztes oder in Not geratenes Wildtier gefunden haben. Reicht eine telefonische Beratung nicht aus und kann der Anrufer das Tier nicht selbst vorbeibringen, rückt einer der rund 30 ehrenamtlichen Wildtierretter aus, leistet erste Hilfe und bringt das Tier zum Tierarzt. Anschließend wird es auf dem vereinseigenen Hof aufgepäppelt, bis es wieder in die Freiheit entlassen werden kann.
"Da rufen schon mal Idioten an"
Die Mitarbeiter erfahren viel Solidarität und Dankbarkeit für ihre ehrenamtliche Arbeit, aber es gibt auch Menschen, die es nicht gut mit ihnen meinen. Steven Giese hat die Erfahrung gemacht, dass vor allem Anrufer aus Berlin ihre Arbeit als selbstverständlich hinnehmen. "Die Großstädter sind da einfach anders. Da rufen schon mal Idioten an, die glauben, mit einem Anruf sei alles erledigt", ärgert sich Giese.
Die Vorgabe des Vereins ist, dass der Finder das Fundtier zunächst selbst sichern muss, zum Beispiel in einer Box, und es dann möglichst auch selbst zur Pflegestelle bringt oder beaufsichtigt, bis ein Einsatzfahrer eintrifft. "Manche stellen sich da sehr an, sagen, sie hätten keine Zeit oder kein Auto", erzählt Giese. Es sei schon vorgekommen, dass ehrenamtliche Fahrer aus Oranienburg eine Stunde nach Berlin gefahren seien, um dann vor dem angeblich nicht vorhandenen Auto des Anrufers zu stehen. Das gebe einem kein gutes Gefühl, so Giese.
Mehr Kooperation wünscht sich der Wildtierretter nicht nur von den Findern, sondern auch von den Feuerwehren. Eigentlich gehört die Tierrettung zu den Aufgaben der Feuerwehren, doch die kämen ohne die Arbeit der Ehrenamtlichen gar nicht hinterher. "Viele machen es sich zu einfach", sagt Steven Giese. So würden manche Einsatzkräfte Gieses Verein einfach Tierrettungen überlassen, für die er – anders als die Feuerwehr – gar kein Spezialgerät hat.
Polizei und Feuerwehr auf Vereinsarbeit angewiesen
Es gibt auch Polizisten, die Einsatzfahrer, die zu einem Notfall eilen, unnötig lange aufhalten und zeige kein Verständnis für die Dringlichkeit der Tierrettung zeigen. Wie bei der Feuerwehr seien diese Erfahrungen aber nicht die Regel. "Mit einigen kann man sehr gut zusammenarbeiten, andere sind strenger mit uns. Es sind Einzelne, die uns das Leben schwer machen", sagt Giese.
Er hat aber auch schon erlebt, dass mehrere Polizisten einen Schwan nicht von der Autobahn bekommen haben und seine Wildtierrettung kontaktierten. "Dann kam ein Streifenwagen mit Blaulicht, der hat uns abgeholt und wir durften hinterherfahren", erinnert sich Giese. In einem anderen Fall stellten die Behörden den Rettern zwei Boote zur Verfügung, um auf der Havel zwei Schwanenmütter und ihre Küken zu retten, die mit einer Armbrust beschossen worden waren.
Kein Blaulicht für Tierrettung
Im Gegensatz zu Kranken- und Polizeiwagen stehen Tierretter oft im Stau. Geht vom Tier selbst keine Gefahr aus, dürfen für die Fahrt zum Einsatzort in der Regel keine Sonderrechte in Anspruch genommen werden. Immer wieder versuchen Tierretter, Blaulicht und Martinshorn auf ihren Einsatzfahrten juristisch durchzusetzen. Kein deutsches Gericht hat dies bisher zugelassen.
Die Arbeit des Gnadenhofs in Oranienburg wird auch von einigen Behörden behindert. So versuchte der Landkreis Oberhavel nach einem Bericht der "MOZ" im Jahr 2022, dem Verein die Aufnahme von Wildtieren zu untersagen. Die Kreisverwaltung warf Giese und seinem Team vor, nicht ausreichend für die Arbeit mit Wildtieren qualifiziert zu sein und die Tiere nicht fachgerecht zu halten und zu versorgen. Dies stieß in der Bevölkerung und in der Politik auf heftige Kritik, zumal Feuerwehr und Polizei in der Region auf die ehrenamtliche Arbeit angewiesen sind.
"Da wird es uns sehr schwer gemacht", ärgert sich Steven Giese. Auf der einen Seite werde sehr genau hingeschaut, dass auf dem Gnadenhof, der sich den Tieren verschrieben hat, alles mit rechten Dingen zugeht, aber beim Tierschutz, so Giese, schaue die Politik viel zu oft weg. Er erlebe, dass Tierquälern in der Regel "nicht viel passiert". Immer wieder erstattet der Verein Anzeige wegen Tierquälerei. "Nach ein paar Wochen kommt Post von der Staatsanwaltschaft, dass kein Täter ermittelt werden konnte. Da fragt man sich schon, ob man sich überhaupt die Mühe gemacht hat", sagt Griese.
Tierschützer fordern schärferes Tierschutzgesetz
Obwohl im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) geregelt ist, dass Tiere keine Sachen sind, sondern Mitgeschöpfe, die Schmerzen und Leiden empfinden, gibt es immer wieder Fälle, in denen Tiere als Sachen bewertet werden. So wird die Verletzung eines Tieres nicht nur nach dem Tierschutzgesetz geahndet, sondern sie stellt auch eine Sachbeschädigung nach § 303 Strafgesetzbuch (StGB) dar.
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"Das ist ein Moment, der uns erfüllt"
Vor sieben Jahren bearbeitete Gieses Verein noch durchschnittlich 1.200 Fälle pro Jahr, seit vier Jahren sind es rund 10.000 pro Jahr. Darüber will Giese nicht klagen. Das zeige vor allem, dass die Menschen ihre Umwelt wahrnehmen und sich um hilflose Tiere kümmern wollen.
Das Leben als Tierschützer ist nicht bequem. "Freizeit geht verloren, an Urlaub ist nicht zu denken", weiß Giese. Aber warum opfern sich die Ehrenamtlichen so auf? Den Grund dafür sehe er jeden Tag mit eigenen Augen, sagt der Tierschützer und zeigt auf die Tiere auf seinem Gnadenhof. "Die haben keine Stimme, die haben niemanden", so der gebürtige Berliner.
"Wenn ein Schwan mit gebrochenem Flügel wieder gesund gepflegt wird und fliegen kann, ist das ein Moment, der uns erfüllt", erzählt Giese. Für die Einsatzfahrer, die Tiere gerettet haben, sei es wichtig, solche Momente mitzuerleben, damit die schlimmen Schicksale nicht die Oberhand gewinnen.
Der Gnadenhof & Wildtierrettung Notkleintiere e.V. Wensickendorf ist ein gemeinnütziger Verein und auf Geld- und Sachspenden angewiesen. Auf der Homepage des Vereins gibt es eine Wunschliste für Sachspenden. Wer ehrenamtlich auf dem Hof mitarbeiten möchte, kann sich per E-Mail an info@notkleintiere.de wenden.
- Gespräch mit Steven Giese auf dem Gnadenhof in Oranienburg
- notkleintiere.de: "Wer wir sind"
- Eigene Recherche