"Hätten so etwas nicht von der CDU erwartet" Ukrainerinnen entsetzt über Merz' "Sozialtourismus"-Aussage
CDU-Chef Merz hat ukrainischen Flüchtlingen "Sozialtourismus" vorgeworfen. Bei Ukrainerinnen in Deutschland herrscht Fassungslosigkeit.
Die Empörung in der ukrainischen Gemeinschaft in Deutschland könnte kaum größer sein: Friedrich Merz, Bundesvorsitzender der CDU, hatte am Montagabend in einem Interview mit Bild TV über geflohene Ukrainer gesagt: "Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge: nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine."
Mittlerweile hat er eine Art Entschuldigung hinterhergeschoben: Das Wort "Sozialtourismus" sei eine "unzutreffende Beschreibung eines in Einzelfällen zu beobachtenden Problems". Falls seine Wortwahl als verletzend wahrgenommen werde, bitte er um Vergebung, twitterte Merz.
Berliner Verein: Merz' Worte sind "respektlos"
Aber der Schaden ist angerichtet. Auch wenn sich in Deutschland lebende Ukrainerinnen bemühen, sich möglichst diplomatisch zu äußern – ihre Verärgerung ist deutlich zu spüren. "Wir sind sehr enttäuscht und hätten so etwas nicht von der CDU erwartet", schreibt Krista-Marija Läbe t-online in einer Mail. "In unserer Heimat sterben jeden Tag so viele Menschen durch den Krieg, und Menschen werden vergewaltigt und gefoltert. In Zusammenhang mit diesem brutalen russischen Angriffskrieg von 'Sozialtourismus' zu sprechen, ist respektlos."
- "Sozialtourismus": Russische Propaganda greift Merz-Aussagen auf
Läbe ist Sprecherin des in Berlin ansässigen Vereins Vitsche, einer Vereinigung junger Ukrainer in Deutschland. Der Verein hat sich gegründet, um Proteste gegen den Krieg sowie Kultur- und Bildungsveranstaltungen zu organisieren. Außerdem unterstützt er ukrainische Flüchtlinge und organisiert humanitäre Hilfe für das Land. "Wir hoffen, dass dies nur ein Ausrutscher war, Herr Merz seinen Fehler wirklich einsieht und von solchen Äußerungen Abstand nimmt", ergänzt Läbe.
"Sie dachten nicht, dass der Krieg so lange dauern wird"
Seit März dieses Jahres ist auch Aliona Rybak in Deutschland. t-online hatte sie bereits getroffen, als sie gerade am Berliner Hauptbahnhof angekommen war. Sie sagt, dass viele aus bürokratischen Gründen zurück in die Ukraine müssen – etwa, um wichtige Dokumente zu holen. "99 Prozent der Menschen kamen für ein paar Wochen nach Deutschland. Sie dachten nicht, dass der Krieg so lange dauern wird", sagt sie heute.
Rybak arbeitet mittlerweile in einem Kindergarten. "Um hier einen Job zu bekommen, musste ich mein Bildungszertifikat einreichen. Als ich aber nach Deutschland flüchtete, habe ich es natürlich nicht mitgenommen. Mein Mann konnte es mir schicken, aber viele Geflüchtete haben diese Möglichkeiten nicht und müssen selbst zurück."
Angesicht von Schicksalen wie dem von Rybak und vielen anderen klingen Merz' Worte besonders bitter. "Ich hoffe, dass der Krieg bald aufhört und ich in meine Heimat zurückkehren und meinen Mann umarmen kann. An Tagen, an denen es mir emotional nicht gut geht, packe ich jeden Abend meinen Koffer. Aber ich verstehe, dass eine Heimkehr im Moment nicht möglich ist", erzählt die 39-Jährige t-online.
Blogger: Viele Ukrainerinnen besuchen ihre Männer
Neben Dokumenten, die in der Heimat besorgt werden müssen, gibt es noch einen weiteren wichtigen Grund, weshalb manche Flüchtlinge aus der Ukraine von Zeit zu Zeit in ihre Heimat zurückreisen. Darauf weist der Blogger und Filmemacher Roman Kondratiev hin, der seit neun Jahren in Berlin lebt.
"Soviel ich weiß, ist es nicht verboten, Deutschland für einen kurzfristigen Heimatbesuch zu verlassen", schreibt er t-online in einer Mail. "Da die Mehrheit der Flüchtlinge Frauen sind, besuchen viele davon Ihre Männer und Eltern, die die Ukraine nicht verlassen können. Die Familien wurden durch den Krieg getrennt."
Er spreche täglich mit ukrainischen Flüchtlingen, sagt Kondratiev – und erfahre sehr oft von solchen traurigen Geschichten. "Und niemals habe ich davon gehört, dass die ukrainischen Flüchtlinge wegen Sozialgeld zurückkommen. In diesem Sinne ist das Wort 'Sozialtourismus' inakzeptabel und sogar beleidigend für alle Ukrainer, die ihre Heimat verlassen mussten. Die Ukrainer sind nicht vor Armut, sondern vor dem Krieg geflohen."
Kritik an Merz von Deutschen "hat mich gefreut"
Dass Friedrich Merz einen schweren Fehler gemacht hat, stellt auch die politische Aktivistin Yelyzaveta Plitkova klar. Sie lebt seit fünf Jahren in Deutschland, studiert an der Freien Universität Berlin. "Ich hoffe, dass Herr Merz auch versteht, dass er mit seinen Aussagen ziemlich gut der russischen Propaganda dient, weil seine Worte auch außerhalb von Deutschland gehört werden", sagt sie t-online.
Merz' Aussagen hätten sie sehr verletzt. "Es gibt keine Ukrainerinnen, die geflüchtet sind, weil sie darauf Lust hatten." Die Reaktionen vieler Deutscher, die ihren Ärger über die Aussagen des CDU-Vorsitzenden geteilt hätten, haben sie aber gefreut.
- Gespräche und Mailaustausch mit betroffenen Ukrainerinnen
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa
- bamf.de: Fragen und Antworten zur Einreise aus der Ukraine und dem Aufenthalt in Deutschland
- Eigene Recherche