Gesundheit Was die Pandemie fürs Immunsystem bedeutet
Berlin (dpa) - Nicht schon wieder: Alle paar Wochen sind die Kinder krank - Erkältungen, Magen-Darm und so weiter. Und auch manche Erwachsene berichten von ihrem Eindruck, zur Zeit so ziemlich jeden Schnupfen mitzunehmen.
Nach zwei Jahren mit unzähligen Aufrufen zu infektionsvermeidendem Handeln und mit Reisebeschränkungen, viel Home-Office und Maskenpflicht können Husten und Schniefen tatsächlich ungewohnt erscheinen. Erst recht in dieser Jahreszeit. Aber steckt mehr dahinter? Haben unsere Immunsysteme mangels Beschäftigung die Abwehr von Krankheitserregern verlernt?
Auffallend ungewöhnliche Entwicklungen
Viele Krankheiten wie Grippe und Keuchhusten seien in der Pandemie selten geworden, sagt der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Bernd Salzberger vom Universitätsklinikum Regensburg. Schon Anfang 2021 hatte eine Analyse des Robert Koch-Instituts (RKI) zu mehreren meldepflichtigen Krankheiten von Tuberkulose bis hin zu Hepatitis E gezeigt, dass zwischen März und Anfang August 2020 rund ein Drittel weniger Fälle gemeldet wurden als anhand der Vorjahreswerte zu erwarten gewesen wäre - Covid-19 ausgenommen. Besonders stark rückläufig waren demnach etwa Atemwegserkrankungen, was auch als Folge von Corona-Maßnahmen wie Masken und Abstand gilt.
Aber wie sieht es mittlerweile aus, da Tröpfchen und Aerosole und damit viele Krankheitserreger oft wieder ungehindert zwischen Menschen übertragen werden können? Blickt man auf Daten der Arbeitsgemeinschaft Influenza am RKI, in denen es neben Grippe und Covid-19 um verbreitete Erkältungserreger wie Rhinoviren geht, so fallen ungewöhnliche Entwicklungen auf.
Influenzaviren zum Beispiel sind erst seit Ostern bei Kindern im Aufwind - also zu einer Zeit, in der die Saison normalerweise dem Ende entgegengeht. Nach der ausgefallenen Grippewelle vor zwei Saisons deuten aber auch die Zahlen für 2021/22 insgesamt noch auf ein sehr verhaltenes Geschehen hin.
Die Kurve zur geschätzten Rate von Atemwegserkrankungen insgesamt in der Bevölkerung spiegelt dies ein Stück weit wider: Sie bewegt sich seit Januar deutlich über der sehr stark von Corona geprägten Saison 2021/21, erreichte aber nie die Höhen der drei Saisons vor der Pandemie, in denen sonst die Grippewelle dominierte. Stattdessen scheint sich das Geschehen nun länger ins Frühjahr hineinzuziehen: Für die vergangenen Wochen weist das RKI höhere Werte aus als zu dieser Zeit in den vier vorigen Saisons.
Hausärzte sehen aber keine völlig aus dem Rahmen fallende Situation. "Aktuell beobachten wir in den Hausarztpraxen keine flächendeckende, auffällige Häufung von respiratorischen Erkrankungen", teilt ein Sprecher des Deutschen Hausärzteverbandes mit. "Regional kann sich die Situation unterschiedlich darstellen, sodass die Hausärztinnen und Hausärzte dort besonders viele Patientinnen und Patienten mit entsprechenden Symptomen behandeln." Bundesweit sei jedoch kein eindeutiger Trend erkennbar.
"Das Immunsystem ist kein Muskel"
Doch was ist dran am viel geäußerten Verdacht, die Immunsysteme seien durch die Pandemie beziehungsweise durch die Corona-Maßnahmen geschwächt worden? "Das Immunsystem ist kein Muskel: Es bildet sich nicht zurück, wenn es nicht oder weniger gebraucht wird", sagt der Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, Carsten Watzl. Das Immunsystem sei in den vergangenen zwei Jahren sicherlich ein Stück weit geschont worden, aber nicht überflüssig geworden. "Es hatte ja dennoch zu tun: Menschen kommen nicht nur über die Atemwege, sondern auch über die Haut oder die Nahrung mit Krankheitserregern in Kontakt, so dass das Immunsystem anspringt."
Der Immunologe hat einen anderen Erkläransatz: Bei manchen Erkältungskrankheiten sei man einfach alle zwei, drei Jahre fällig. "Dafür sind zum Beispiel saisonale Coronaviren ein Beispiel. Wer die während der vergangenen zwei Jahre verpasst hat, kann jetzt mehrere Erkältungen nacheinander kriegen. Das ist ein Nachholeffekt, ähnlich wie man das bei den RSV-Infektionen bei Kindern vergangenen Herbst gesehen hat." RSV steht für Respiratorisches Synzytial-Virus. Es kann schwere Lungenentzündungen hervorrufen und insbesondere für Frühgeborene, Säuglinge und Kleinkinder gefährlich sein. Eine große Welle bei Kindern war auch in anderen Ländern aufgetreten.
Fachleute sehen zudem - ebenfalls eine Pandemiefolge - eine gestiegene Aufmerksamkeit für das Thema und womöglich eine dadurch veränderte subjektive Wahrnehmung. "Viele von uns haben sich in der Pandemie daran gewöhnt, lange Zeit am Stück keine Erkältungen mehr zu haben. Dabei war es davor schon so, dass man immer wieder einmal betroffen war", sagt Watzl.
Immer häufiger Krankheitserreger aus dem Tierreich
Auch der derzeit beobachtete ungewöhnliche Affenpocken-Ausbruch könne nicht mit vermeintlich durch die Pandemie geschwächten Immunsystemen in westlichen Ländern erklärt werden, sagt Watzl. "Es ist vielmehr so, dass immer häufiger Krankheitserreger aus dem Tierreich auf den Menschen überspringen." Das liege daran, dass Menschen zunehmend in bisher unerschlossene Gebiete vordringen - und an den zahlreichen internationalen Reisebewegungen. "Wir werden solche Erkrankungen in Zukunft noch häufiger sehen. Wenn man an das Aufkommen von Mers, Sars und Sars-CoV-2 denkt, sind die Affenpocken eher harmlos", sagt Watzl.
Vorsicht ist aus Sicht von Wissenschaftlern im kommenden Herbst geboten: "Wenn wir in diesen Jahren nun nicht mit Influenza in Berührung gekommen sind, kann es sein, dass uns das Virus in der Evolution "davonläuft", wir es also irgendwann mit einem Virus zu tun haben, das wir weniger gut kennen", schildert Salzberger. Das Immunsystem vergesse aber die alten Begegnungen nicht so schnell.
Antikörper gegen Influenza nähmen über die Zeit der Pandemie kaum ab. Dennoch: "Impfmüdigkeit in diesem Herbst und Winter wäre fahrlässig", betont Salzberger. "Jede Influenza-Impfung verbessert unsere Immunantwort auf eine Influenza-Infektion und das ist gerade für Risikopatienten extrem wichtig."