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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Großangriff auf Tokio "Wollte Japan in die Steinzeit bomben"

Mit zwei Atombomben verwüsteten die USA 1945 Hiroshima und Nagasaki. Doch schon vorher kostete ein gewaltiger konventioneller Luftangriff auf Tokio Zehntausende das Leben. Historiker Takuma Melber erklärt die Hintergründe.
1945 hatten sich die amerikanischen Truppen nah an Japan herangekämpft, allerdings waren die Verluste immens. Schließlich wendete die US Air Force im Pazifik die gleiche Strategie an wie in Europa gegen Deutschland: Einer der zerstörerischsten konventionellen Luftangriffe der Geschichte vernichtete am 10. März große Teile Tokios und kostete bis zu 100.000 Menschen das Leben. Takuma Melber, Historiker und Experte für den Pazifikkrieg, analysiert im Gespräch die Vorgeschichte, den Ablauf und die Folgen des Bombardements Tokios.
Herr Melber, im März 1945 waren die amerikanischen Streitkräfte Japan nahe gerückt, ihr Sieg wurde wahrscheinlicher. Warum griff die US Air Force die Hauptstadt Tokio in jenem Monat dennoch in einem derartigen Ausmaß an?
Takuma Melber: Der Kampf im Pazifik war für die USA zermürbend und überaus verlustreich – zeitgleich waren auch Millionen GIs zur Befreiung Europas im Einsatz. Die US-Truppen arbeiteten sich mittels der Strategie des "island hopping", des "Inselspringens", Stück für Stück aus südlicher Richtung kommend an die japanischen Hauptinseln heran, indem sie Insel für Insel eroberten. Dabei war jede einzelne Invasion und Eroberung einer noch so kleinen Insel äußerst verlustreich für die Vereinigten Staaten. Bei der Schlacht um Peleliu – ein kleines, kaum bekanntes Eiland irgendwo im Pazifik – hatten die USA Tausende Mann an Verlusten zu verzeichnen.

Zur Person
Takuma Melber, Jahrgang 1983, ist promovierter Historiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heidelberg Centre for Transcultural Studies (HCTS) der Universität Heidelberg. Der deutsch-japanische Historiker ist Experte für die Geschichte des Zeitalters der Weltkriege im asiatisch-pazifischen Raum. 2016 veröffentlichte Melber sein Buch "Pearl Harbor. Japans Angriff und der Kriegseintritt der USA", ein Jahr später folgte "Zwischen Kollaboration und Widerstand. Die japanische Besatzung in Malaya und Singapur (1942–1945)". Im Sommer 2025 erscheint der Sammelband "Kriegsende 1945. Transnationale Analysen einer globalhistorischen Zäsur", den Melber mit Frank Engehausen herausgibt.
Weil den japanischen Soldaten Kapitulation und Gefangennahme als unehrenhaft galten?
So ist es. Die japanischen Verteidiger von Peleliu kämpften dort, aber eben auch auf anderen Inseln wortwörtlich bis zum letzten Mann. Den Politikern und Militärstrategen in Washington wurde dies auch zunehmend bewusst, ebenso wie die Tatsache, dass in der US-Gesellschaft Forderungen nach einer Beendigung des seit Jahren geführten Konflikts lauter wurden. Dem Krieg im Pazifik ein schnelles Ende zu setzen: Das war das Gebot der Stunde.
Wie aber sollte das erreicht werden? Die japanischen Streitkräfte bewiesen Insel für Insel, dass sie nicht ohne Weiteres aufgeben würden.
Die USA wollten ein deutliches, unmissverständliches und zugleich entscheidendes Zeichen setzen. Ein solches sahen die Kriegsplaner in Washington in einem großen Luftangriff auf Japans Hauptstadt – einem bewusst und gezielt geführten Angriff auf das Zentrum und Herz des Inselstaates. Das wurde möglich, weil zwei Dinge eintraten: Die Amerikaner pirschten sich erfolgreich per Inselsprung an Japan heran, zugleich brachte der Einsatz von Boeing B-29-Superfortress-Bombern im Jahr 1944, die von Flugplätzen in China starteten, nun auch die japanischen Mutterinseln ins Visier alliierter Bomber. Zunächst waren deren Einsätze auf den Südwesten des Landes beschränkt. Einen echten "Gamechanger" stellten dann die im Sommer 1944 geführten Schlachten um Saipan und Guam dar.
Tokio auf der Hauptinsel Honshū kam also in Reichweite?
Ja. Dank der Eroberung dieser nördlichen Marianeninseln konnten B-29-Bomber jetzt Japans Hauptstadt aus südlicher Richtung kommend direkt erreichen. Tokio und damit auch die Regierung und der Kaiser waren unmittelbar bedroht.
Was hatten die US-Streitkräfte exakt vor?
Alliierte Bomber nahmen fortan Japans Großstädte ins Visier und agierten dabei wie gegen die deutsche Luftwaffe in Europa: Am helllichten Tag wurden Einsätze gegen militärische Ziele, wie Stützpunkte und Anlagen der japanischen Rüstungsindustrie, geflogen. Allerdings waren die Ergebnisse recht unbefriedigend: Bomben wurden noch aus großer Höhe abgeworfen und verfehlten oft ihr Ziel. Auch erwies sich die japanische Luftabwehr noch als effektiv: Für amerikanische Crews waren die Einsätze mit hohen Verlusten verbunden. Die Effizienz steigerte sich allerdings. Zudem war mit Sicherheit entscheidend, dass US-General Curtis Emerson LeMay das Kommando über den strategischen Luftkrieg gegen Japan übertragen wurde. Damit änderte sich die Militärdoktrin der Alliierten im Pazifik.
General LeMay setzte auf den Bombenkrieg gegen Städte, wohl wissend, dass zahlreiche Zivilisten dabei den Tod fanden.
Den USA ging es vor allem um eine schnelle Beendigung des Krieges, nicht nur in Europa, sondern auch im asiatisch-pazifischen Raum. Dafür war den Verantwortlichen im Frühjahr 1945 jedes Mittel recht. Von LeMay sind die berühmten Aussprüche überliefert, dass es ihm mit dem konventionellen Luftangriff und dem massiven Einsatz von Brandbomben gegen Japans Hauptstadt Tokio darum ging, sich nun "nicht mehr mit den Fliegen zu beschäftigen, sondern sich dem Misthaufen zuzuwenden" und "Japan in die Steinzeit zurückzubomben". Darum ging es ihm tatsächlich, dieser General wollte Japan in die Steinzeit bomben.
Wie wollte LeMay dieses Ziel verwirklichen?
LeMay ließ für den Luftangriff auf Tokio die Maschinengewehre der mehr als 300 B-29-Maschinen abmontieren, sodass jede Maschine noch mehr Bomben laden konnte. Die B-29 wurden mit Phosphor-, Napalm- und Brandbomben bestückt, sogenannten Clusterbomben der Modelltypen M47 und M69. Insgesamt wurden über 1.600 Tonnen Bomben auf Tokio abgeworfen. Die Clusterbomben hatten eine absolute zerstörerische Kraft und sorgten für hunderte Quadratmeter große Flächenbrände mit Temperaturen weit über 1.000 Grad Celsius, in der Spitze sogar über 1.500 Grad Celsius. Die so entfachten Feuerstürme brachten teils Beton oder gar Stahl zum Schmelzen. Das war ein tödliches Inferno, es gab kaum ein Entkommen.
Wie gingen die US-Bomber in der Nacht vom 9. auf den 10. März 1945 beim Angriff auf Tokio vor?
Die rund 300 amerikanischen B-29-Maschinen bombardierten aus niedrigerer Höhe – 1,5 bis 2,5 Kilometer – und bei Dunkelheit Tokio. Die Clusterbomben lösten einen Feuersturm aus, sodass die Stadt niedergebrannt wurde. Als besonders verheerend erwies es sich, dass vor allem bewohnte Viertel getroffen wurden. Hier standen überwiegend hölzerne Gebäude, die dementsprechend leicht, heftig und schnell niederbrannten. Das Ausmaß der Zerstörung belief sich auf rund 41 Quadratkilometer und eine Viertelmillion Gebäude. Eine Million Tokioter waren obdachlos, unter den Überlebenden waren Tausende Verwundete. Schätzungen zufolge kostete der schwerste einzelne Bombenangriff des Zweiten Weltkriegs mindestens 80.000, wahrscheinlich sogar etwas mehr als über 100.000 Menschen das Leben.
Wie schilderten Überlebende den Angriff und die Folgen?
Das "Dokumentationszentrum der Großen Luftangriffe und Kriegsschäden Tokios", auf Japanisch "Tōkyō Daikūshū Sensai Shiryō Sentā", zeigt in seiner Ausstellung zahlreiche Schriftzeugnisse, Memoiren und auch "Verarbeitungen". So etwa in der Nachkriegszeit entstandene Gemälde von Zeitzeugen, welche das erlebte Leid und die Zerstörung drastisch visualisieren. Vor wenigen Wochen habe ich das Dokumentationszentrum besucht. Ich erinnere mich an die Berichte der damals Jugendlichen, die in dieser Nacht oder den Folgetagen zu Vollwaisen wurden. Teilweise mussten Kinder mitansehen, wie ihre Mütter und Geschwister unter Trümmern eingeklemmt, schwer verwundet, aber noch lebend verbrannten. Es hängen dort auch Gemälde, die vor dem Feuersturm Fliehende zeigen, in den Flüssen trieben Tote, im berühmten Ueno-Park türmten sich die Leichenstapel. Überlebende waren durch die Bombennacht und ihre Folge bis an ihr Lebensende traumatisiert.
Wie reagierten die Spitzen des japanischen Staates? Der US-Luftangriff hatte ja demonstriert, dass das Militär Japans die eigene Hauptstadt nicht mehr schützen konnte.
Kaiser Hirohito machte sich Stunden nach dem Inferno persönlich ein Lagebild, als er durch die Tokioter Trümmerlandschaft ging: Ganze Straßenzüge lagen in Trümmern oder waren niedergebrannt, es gab Zigtausende an Toten und Verwundeten. Ein paar japanische Kollegen vertreten heute die Ansicht, dass bereits die Bombardierung Tokios Hirohito dazu gebracht haben soll, über die Beendigung des Krieges und die Kapitulation nachzudenken.
Der Krieg sollte aber noch andauern, erst die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im August 1945 bewirkten das Kriegsende im Pazifik.
Ja. Dazu kam die Kriegserklärung der Sowjetunion an Japan und der Einmarsch der Roten Armee in den japanischen Marionettenstaat Mandschukuo.
Welche Rolle spielt der große Luftangriff auf Tokio heute in der Erinnerung Japans?
Ehrlicherweise muss man sagen, dass auch in Japan der "Tōkyō Daikūshū", also der Große Luftangriff auf Tokio, im Vergleich zu den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki eine klar nachgeordnete Rolle spielt. Eine systematische Aufarbeitung des "Tōkyō Daikūshū" erfolgte erst Jahrzehnte später: Die erste nennenswerte Quellensammlung von Zeitzeugenberichten gab es in Japan erst Anfang der 1970er Jahre!
Allerdings existiert das Dokumentationszentrum, das Sie erwähnt haben?
Der Stadt Tokio ist es nicht gelungen, die Erinnerung an den Tokioter Luftangriff entsprechend zu institutionalisieren. Pläne, ein Tokioter Friedensmuseum zu eröffnen, wurden aus finanziellen Gründen kurz vor der Jahrtausendwende ad acta gelegt. Das oben genannte Dokumentationszentrum existiert zwar, ist aber vergleichsweise unbekannt, privater Natur und wird vor allem durch Spenden getragen. Zwar wird es von Schulklassen besucht, bei denen es sich aber mehrheitlich um solche aus der Großmetropole Tokio handelt. Hiroshima und Nagasaki werden hingegen von Schulklassen aus dem ganzen Land besucht. Im Gegensatz zum Luftangriff auf Tokio sind die Bilder von Hiroshima – erinnert sei an das Schlagen der Friedensglocke – alljährlich ein fester Bestandteil der internationalen Nachrichtenlandschaft.
Herr Melber, vielen Dank für das Gespräch.
- Schriftliches Interview mit Takuma Melber