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Bloody-Sunday-Massaker: Wie Johnson die Täter davonkommen lassen will


Bloody-Sunday-Massaker
Wie Boris Johnson die Täter davonkommen lassen will

Von dpa, mvl

Aktualisiert am 30.01.2022Lesedauer: 4 Min.
Bloody Sunday 1972 im nordirischen Derry: Britische Soldaten erschossen mehr als ein Dutzend Unbewaffnete, Boris Johnson will heute als Premier die Strafverfolgung unmöglich machen.Vergrößern des Bildes
Bloody Sunday 1972 im nordirischen Derry: Britische Soldaten erschossen mehr als ein Dutzend Unbewaffnete, Boris Johnson will heute als Premier die Strafverfolgung unmöglich machen. (Quelle: UPI/dpa/dpa)

Vor 50 Jahren erschossen britische Soldaten Unbewaffnete in Nordirland, bestraft wurde bis heute keiner von ihnen. Premier Boris Johnson will, dass das auch so bleibt. Sein Plan könnte für die EU zum Problem werden.

"Zerbrochene Flaschen unter Kinderfüßen", schallte es 1983 weltweit in englischer Sprache aus den Radios. "Über die Sackgasse verstreute Leichen". Und immer wieder der Refrain: "Sunday, Bloody Sunday". Es war die Stimme von Bono, Frontmann der irischen Rockband U2, die die zahlreichen Hörer fesselte.

Die Inspiration für den Kultsong war allerdings ein trauriger: Jahre zuvor war der 30. Januar 1972 tatsächlich zu einem blutigen Sonntag geworden. In Derry, Nordirland, gingen an diesem Tag Tausende katholische Iren für ihre Bürgerrechte auf die Straße. Überwacht von Soldaten der britischen Armee. Alles hätte friedlich bleiben können. Doch dann kam es zur Katastrophe.

Ein blutiges Jahr

Fallschirmjäger schossen auf die Demonstranten, töteten 13 von ihnen. Ein Foto von diesem Ereignis überliefert den Schrecken: In der Hand ein blutbeflecktes weißes Taschentuch schwenkend, geleitet der Priester Edward Daly eine Gruppe von Männern durch die Straßen – sie tragen einen tödlich Verwundeten vorbei an schwer bewaffneten Soldaten.

Dieser Sonntag vor 50 Jahren, der als "Bloody Sunday" in die Geschichte einging, wurde zum Kristallisationspunkt des Nordirland-Konflikts. Und rückte den Bürgerkrieg im äußersten Westen Europas schlagartig ins Bewusstsein der Weltöffentlichkeit. Denn die 13 Menschen in Derry, die die britischen Fallschirmjäger erschossen, teils geradezu hinrichteten, waren unbewaffnet, die jüngeren nicht einmal 18 Jahre alt.

Die Folgen waren verheerend. Hunderte Freiwillige schlossen sich der Terrororganisation "Irisch Republikanische Armee" (IRA) an, aufseiten der Protestanten radikalisierte sich die paramilitärische Ulster Defence Association noch weiter, Dutzende Katholiken wurden von ihren Vollstreckern ermordet. Das Jahr 1972 avancierte so zum blutigsten des als "Troubles" bezeichneten Konflikts auf der geteilten Insel.

"Bloody Sunday nahm den Menschen das Gefühl, dass sie in einer demokratischen Gesellschaft leben, in der Wandel möglich ist und in der das Rechtsstaatsprinzip ein wichtiges Konzept ist", sagt Paul O'Connor vom Pat Finucane Centre in Derry, das protestantische Unionisten Londonderry nennen, einer Interessenvertretung für Hinterbliebene von Gewaltopfern, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur (dpa).

Der einzige Ausweg für die in der nordirischen Gesellschaft benachteiligten Katholiken schien damals eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland im Süden – für manche notfalls mit Waffengewalt. Fünf Jahrzehnte später sind die Wunden allerdings noch immer nicht geschlossen. Schlimmer noch: Sie drohen wieder aufzureißen.

Mehr als 3.600 Tote

Denn obwohl der damalige britische Premierminister David Cameron 2010 nach Abschluss einer ausführlichen Untersuchung die Unschuld der Demonstranten und das Fehlverhalten der Armee eingestand, ist bis heute kein einziger der 15 damals verantwortlichen Soldaten vor Gericht gestellt worden. Und nun plant die Regierung in London auch noch ein Gesetz, das jegliche Strafverfolgung, Zivilprozesse oder auch nur öffentliche Untersuchungen im Zusammenhang mit dem Nordirland-Konflikt unmöglich machen soll.

Dabei ist das Bedürfnis nach Aufarbeitung riesig: Der Konflikt zwischen den meist katholischen Befürwortern der Wiedervereinigung mit dem Süden und den überwiegend protestantischen Anhängern der Union Nordirlands mit Großbritannien kostete zwischen 1968 und 1998 mehr als 3.600 Menschen auf beiden Seiten das Leben – meist durch die Hand von Paramilitärs wie der IRA.

Mit dem Gesetzesvorhaben sollten Veteranen vor "rechtsmissbräuchlichen Verfahren" geschützt werden, sagte Premierminister Boris Johnson im Parlament in London im vergangenen Sommer. Außerdem werde den Menschen die Möglichkeit gegeben, "einen Strich unter die Troubles" zu ziehen, befand er. Tatsache ist aber, dass außer Johnsons Tory-Partei praktisch niemand diese Pläne unterstützt. Weder die nordirischen Parteien, egal auf welcher Seite, noch die irische Regierung oder die Überlebenden und Hinterbliebenen.

Der Premierminister Irlands, Micheàl Martin, bezeichnete das Vorhaben erst Mitte Januar als "Verrat an den Opfern aller Gewalt." Die Regierung in London habe die Aufarbeitung schon viel zu lange verschleppt, kritisierte er. Die harschen Worte spiegeln das Verhältnis zwischen Dublin und London wider: Es sei so schlecht wie seit Jahrzehnten nicht mehr, sagt die Konfliktforscherin Katy Hayward von der Queen's University Belfast im dpa-Gespräch.

Johnsons Politik ist bei allen unbeliebt

Schuld daran ist vor allem der Brexit. Die Grenze zwischen dem nördlichen und dem südlichen Teil der irischen Insel glich während des Bürgerkriegs einem Bollwerk mit Türmen und Stacheldraht. Das änderte sich mit dem Friedensschluss durch das Karfreitagsabkommen 1998 – die Trennlinie wurde beinahe unsichtbar. Die Ungleichbehandlung von Protestanten und Katholiken nahm ab. Das Leben unter britischer Herrschaft schien wieder möglich.

Doch das drohte der EU-Austritt Großbritanniens zunichtezumachen, Kontrollen wurden plötzlich wieder nötig, weil die irische Grenze zur EU-Außengrenze wurde. Das zu verhindern, erwies sich als extrem schwierig. Die frühere Premierministerin Theresa May versuchte, die Quadratur des Kreises zwischen den Forderungen der Brexit-Anhänger in London und den beiden Konfessionen in Nordirland sowie der EU zu finden. Und scheiterte.

Ihr Nachfolger Johnson hielt sich damit nicht lange auf. Er schloss gegen den Widerstand der protestantischen Parteien ein Abkommen mit Brüssel, dessen Konsequenz – eine Warengrenze zwischen Nordirland und dem Rest des Vereinigten Königreichs – er umgehend abstritt und inzwischen versucht, wieder rückgängig zu machen. Das sogenannte Nordirland-Protokoll ist seitdem Zankapfel zwischen London und Brüssel – mit ungewissem Ausgang.

Das Ergebnis ist, dass laut Umfragen nur vier Prozent der Menschen in Nordirland – gleich welcher Konfession – noch Vertrauen in die nationale Regierung in London haben, wie Konfliktforscherin Hayward sagt. Was das alles für den Friedensprozess bedeutet? "50 Jahre nach Bloody Sunday ist die Frage der Wiedervereinigung Irlands so sehr auf der Tagesordnung wie noch nie seither", sagt O'Connor.

Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Nachrichtenagentur dpa
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