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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kampf gegen Seuchen "Dann müsste der Staat unter anderem den Sex verbieten"
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t-online: Herr Gerste, wie selten zuvor haben die Deutschen dieses Jahr die Ankündigung der Nobelpreisträger für Medizin verfolgt: Alle Hoffnungen richteten sich auf die Biontech-Gründer Özlem Türeci und Uğur Şahin. Das Rennen machten aber andere. War die Entwicklung ihres Corona-Impfstoffs nicht beeindruckend genug?
Ronald Gerste: Ich hätte Özlem Türeci und Uğur Şahin den Nobelpreis sofort verliehen, sie haben ihn sich mehr als verdient. Aber nächstes Jahr wird es ja neue Preise geben. Ganz Deutschland, einst als "Land der Dichter und Denker" bekannt, hätte die Auszeichnung allerdings sehr gutgetan. Fast wie in der guten, alten Zeit.
Sie spielen auf das Jahr 1901 an, als die ersten Nobelpreise verliehen worden sind?
Ja. Etwas übertrieben gesagt, machten die Deutschen die Sache unter sich aus. Wilhelm Conrad Röntgen erhielt den Physik-Nobelpreis für die Entdeckung der Röntgenstrahlen, Emil Behring den für Medizin wegen seiner Verdienste bei der Bekämpfung der Diphtherie. Jacobus Henricus van 't Hoff, der die Auszeichnung für Chemie erhielt, war natürlich Niederländer, forschte aber in Berlin.
Deutschland war zu dieser Zeit aber nicht nur ein Standort erstklassiger Forschung, sondern galt auch als "Apotheke der Welt".
Richtig. Nehmen wir das Beispiel Emil von Behrings, wie er seit seiner Adelung durch Kaiser Wilhelm II. hieß. Seine Forschung gegen die Diphtherie war bahnbrechend und rettete unzähligen Kindern das Leben.
Die Diphtherie war auch als "Würgeengel der Kinder" berüchtigt.
Heute kennen wir die Diphtherie in der Regel nur noch aus dem Impfpass, aber noch um 1900 herum war sie bei Eltern gefürchtet. Sie wird von Bakterien hervorgerufen, die, vereinfacht gesagt, eine Art Schicht auf Mandeln, Kehlkopf und etwa auch in Luftröhre oder Nase bilden. Zusätzlich sondern die Erreger auch noch ein Toxin ab. Kurzum, die Diphtherie raffte gerade die Jüngsten in hoher Zahl hinweg. Rund 50.000 Kleinkinder erstickten Jahr für Jahr im Deutschen Reich auf diese Weise.
Ronald D. Gerste, 1957 in Magdeburg geboren, ist promovierter Mediziner und Historiker. Er lebt in der Nähe der amerikanischen Hauptstadt Washington, D.C., und schreibt regelmäßig als Korrespondent für deutschsprachige Medien. Weiterhin ist Gerste Autor zahlreicher Bücher zur US-Geschichte wie auch zur Geschichte der Medizin. Anfang 2021 erschien sein neuestes Werk "Die Heilung der Welt. Das Goldene Zeitalter der Medizin 1840–1914".
Bis Behring eine Lösung fand. Und sein Heilserum mithilfe der Farbwerke Hoechst in größeren Mengen produzierte.
Unterstützt von Kitasato Shibasaburō aus Japan und Paul Ehrlich, der übrigens 1908 den Nobelpreis für Medizin erhielt, gelang es Behring, ein Serum gegen die Diphtherie zu entwickeln. Die Überlegung war überaus logisch: Und zwar wussten sie bereits, dass etwa Pferde ein Antitoxin gegen die Erreger der Diphtherie bilden konnten. Entsprechend müsste doch mithilfe der Vierbeiner ein entsprechendes Heilmittel für bereits an der Diphtherie erkrankte Kinder zu produzieren sein. Und Behring sollte Recht behalten. Schließlich ging er eine Partnerschaft mit den Farbwerken Hoechst ein, um das Heilserum in größeren Mengen zu produzieren. Mit 57 Pferden ging es 1894 los.
Auf den ersten Blick ist man etwas verwundert, dass Farbwerke wie Hoechst pharmazeutische Produkte herstellten.
Ja, das stimmt. Aber letzten Endes sind Chemie und Pharmazie eng miteinander verwandt. Die Medikamente von Hoechst sollten entsprechend bis zum Ersten Weltkrieg weltweit gefragt werden. Genauso wie zum Beispiel die von Merck und Schering, Unternehmen, die aus Apotheken hervorgegangen sind. Deutschland war damals aber viel mehr als nur die "Apotheke der Welt". Das Kaiserreich, das zu Recht in vielerlei Hinsicht kritisiert wird, war auch ein Wissenschaftsstandort allererster Güte. Dafür wurde Deutschland in aller Welt bewundert und beneidet.
Entsprechend strömten Forscher aus der ganzen Welt dorthin. Wie besagter Kitasato Shibasaburō, der mit Emil von Behring arbeitete.
Damals war Fortschritt kein böses Wort in Deutschland, es herrschte Aufbruchstimmung allerorten. Allein die gewaltigen Fortschritte im Bereich der Medizin erfüllten die Menschen mit Hoffnung. Die Diphterie war heilbar geworden, die Chirurgie rettete nun Patienten, die noch wenige Jahrzehnte zuvor nicht zu retten gewesen wären. Dazu mussten sie die Operationen nicht mehr ohne Betäubung ertragen. Im Zusammenspiel mit den anderen technischen Durchbrüchen dieser Zeit konnte sich die Zeitgenossen des Eindrucks nicht erwehren, in einer Art goldenem Zeitalter des Fortschritts zu leben. Die Universitäten waren exzellent, es gab wagemutige Unternehmer, die Firmen wie die heutige Bayer AG gründeten.
Die Bayer AG gibt es heute noch, der Name der Farbwerke Hoechst ist hingegen nahezu vergessen. Wie Deutschland schon lange nicht mehr die vielbeschworene "Apotheke der Welt" ist, sondern inzwischen Indien diesen Beinamen trägt. Wie kam es zu diesem Niedergang?
Der Niedergang begann mit dem Ersten Weltkrieg. Bis dahin musste man als Forscher geradezu Deutsch beherrschen, unter anderem, weil wichtige Fachliteratur in dieser Sprache gehalten war. Das war für viele ausländische Wissenschaftler kein Problem, weil sie ohnehin in Berlin, Göttingen oder an anderen Orten zumindest teilweise studiert oder geforscht hatten. Während des Weltkriegs änderte sich dies dann grundlegend. Wer nun noch Deutsch sprach, wurde misstrauisch beäugt.
Es herrschte doch größtes Misstrauen: Als die Spanische Grippe 1918 wütete, rührten viele Amerikaner und Briten ihre in Deutschland hergestellten Aspirin-Tabletten nicht mehr an. Sie hatten Angst, dass der Kriegsgegner sie mit Erregern verseucht hätte.
Das ist richtig. Sie sehen, wie weit die Furcht reichte. Nach dem Zweiten Weltkrieg mit den von Deutschen begangenen Gräueltaten war das ganze Land schließlich vor der ganzen Welt moralisch vollkommen diskreditiert.
Das Ausmaß war noch größer: 1947 standen fast zwei Dutzend hochrangige Manager der I.G. Farben, in der sich in den Zwanzigerjahren etwa mit Bayer, Hoechst und BASF führende deutsche Chemie- und Pharmazieunternehmen zusammengeschlossen hatten, in einem der Nürnberger Nachfolgeverfahren vor Gericht. Ihnen wurden unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen.
Nehmen wir das Beispiel Auschwitz: Gegen Bezahlung stellte die SS dort der I.G. Farben KZ-Häftlinge zur Zwangsarbeit zur Verfügung. Der bekannte Holocaust-Überlebende Primo Levi war einer von ihnen. Weil unter anderem viele Industrieanlagen in Deutschland aber relativ schnell wieder produzierten, kam es spätestens in den Fünfzigerjahren wieder zu einem Aufschwung. Der erst vom Contergan-Skandal von 1961 und 1962 gestoppt worden ist.
Das vom Hersteller Grünenthal als Beruhigungsmittel verkaufte Contergan rief bei Föten teils schwere Missbildungen hervor.
Ja, es war ein Schock. Immerhin führte der Contergan-Skandal zu Konsequenzen: Die Zulassung von neuen Medikamenten wurde viel strenger und ebenso die Produkthaftung. Die große Zeit der deutschen Pharmazie war aber gleichwohl vorbei.
Der Impfstoff von Biontech gegen das Coronavirus ist vor seiner Zulassung auf Herz und Nieren geprüft worden. Zeigt das in Mainz ansässige Unternehmen noch einmal den alten Gründergeist auf?
Auf jeden Fall, es war eine großartige Leistung. Insgesamt kamen alle Impfstoffe gerade zur rechten Zeit. Weil wir doch ziemlich verlernt haben, mit derartigen Pandemien umzugehen.
Bitte erklären Sie das näher.
Unsere Vorfahren hatten gar keine andere Möglichkeit, als Krankheiten mit Lockdowns zu bekämpfen. Nehmen Sie die Cholera, eine schwere Durchfallerkrankung, vereinfacht gesagt. Bevor bekannt war, dass sich der Erreger im Wasser befindet, versuchte man die Verbreitung etwa durch militärische Absperrungen zu stoppen.
Wie bewerten Sie denn insgesamt die Maßnahmen gegen das Coronavirus?
Anfangs waren die Lockdowns eine durchaus notwendige Maßnahme. Leider, denn es ist Anfang 2020 zu viel Zeit verschwendet worden. Man wusste damals auch noch nicht, wie tödlich das Virus ist. Haben die Staaten richtig gehandelt? Ja, wahrscheinlich. Obwohl ihr Verhalten in Sachen Gesundheitspolitik sehr irrational ist.
Wie meinen Sie das?
Nehmen wir das Beispiel Tabak. Rauchen tötet viel mehr Menschen, als es Corona tut. Jedes Jahr aufs Neue. Was macht aber der Staat? Er nimmt Geld durch die Tabaksteuer ein. Auf der anderen Seite tötet die Grippe ebenfalls immer wieder sehr viele Menschen. Bei einer schweren Grippewelle werden allerdings keine Lockdowns verhängt. An die Influenza haben wir uns einfach gewöhnt.
Es ist einfach ein schwieriger Balanceakt, wie weit der Staat in unsere Freiheit eingreift. Und wie sehr die Bürger ihn eingreifen lassen.
Richtig. Nehmen wir das Beispiel Hepatitis C. Die Sterblichkeit beträgt langfristig ungefähr fünf Prozent, beim Coronavirus liegt sie laut Statistiken etwas unter einem Prozent. Wenn es nun keine Toten mehr wegen Hepatitis C geben sollte, müsste der Staat unter anderem den Sex verbieten. Einfach, weil es keinen Impfstoff dagegen gibt.
Eine letzte Frage: Hat uns die Erfahrung mit dem Coronavirus erneut gelehrt, Krankheiten wieder mit dem gebührenden Ernst zu sehen?
Das hoffe ich doch sehr. Es hätte viel schlimmer kommen können als Corona. Einerseits verbreiten sich Erreger heute etwa Dank des Flugzeugs viel schneller. Auf der anderen Seite ist auch die Medizin viel schlagfertiger geworden. Deswegen müssen wir uns mit Corona nicht so viele Jahrhunderte herumschlagen wie mit der Pest.
Herr Gerste, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Ronald Gerste via Zoom