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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Benjamin Ferencz gestorben "Ich habe Hitler leider nicht erwischt"
Benjamin Ferencz jagte Adolf Hitler, in den Nürnberger Prozessen klagte er Massenmörder an. Nun ist der Jurist gestorben. Im Interview berichtete er t-online vor zwei Jahren, wie er Beweise in KZs fand.
Er war der letzte noch überlebende Ankläger der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse: Nun ist der US-Jurist Benjamin Ferencz im Alter von 103 Jahren gestorben. Er starb am Freitag in einer Betreuungseinrichtung in Florida, wie US-Medien unter Berufung auf seinen Sohn Don Ferencz berichteten. "Die Welt hat einen Anführer im Kampf für die Gerechtigkeit für Opfer von Genozid und damit verbundenen Verbrechen verloren", schrieb das US-Holocaust-Museum bei Twitter.
Eigentlich sollte Benjamin Ferencz im Zweiten Weltkrieg als Soldat gegen die Wehrmacht kämpfen. Bald aber verfolgte der junge Amerikaner eine andere, ebenso wichtige Mission: Die Schergen der nationalsozialistischen Todesmaschinerie anzuklagen, die unzählige Menschen ermordet hatten.
Welche Nazigrößen hatten welche Befehle gegeben, wer war für die Massenmorde verantwortlich? Im Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher fielen vor 75 Jahren die Urteile gegen Regimegrößen wie Hermann Göring oder Albert Speer. Aber was sollte mit Männern wie Otto Ohlendorf, Heinz Jost und Paul Blobel geschehen? Jeder dieser SS-Führer trug die direkte Verantwortung für die Ermordung Zehntausender Männer, Frauen und Kinder. Benjamin Ferencz, zum Zeitpunkt des Interviews 101 Jahre alt, klagte sie 1947 aus diesem Grund in einem Nachfolgeprozess an.
Eines seiner letzten Interviews hat Ferencz vor zwei Jahren t-online gegeben. Dabei sprach er darüber, wie er einst Adolf Hitler auf der Spur war, auf welche Weise er das Grauen der deutschen Konzentrationslager bei der Befreiung ertragen konnte und mit welchen Mitteln sich eine bessere und friedlichere Welt schaffen lässt.
t-online: Herr Ferencz, vor 75 Jahren fielen im Nürnberger Prozess die Urteile gegen einige der größten Verbrecher der Geschichte. Was haben Sie in diesem Augenblick gedacht?
Benjamin Ferencz: Es war ein sehr gutes Gefühl. Das Recht hatte wieder die Oberhand über die Gewalt gewonnen. Eine Tatsache bedauere ich aber bis heute.
Welche?
Ich habe Adolf Hitler leider nicht erwischt. In den letzten Kriegstagen hatte ich mich auf die Jagd nach dem "Führer" begeben. Mit meinem Jeep fuhr ich bis nach Berchtesgaden, weil viele dachten, dass sich Hitler dort oben auf dem Obersalzberg verschanzt habe.
Aber Hitler hatte bereits in seinem Bunker in Berlin Suizid begangen.
Das war sehr ärgerlich! Nachdem ich diesen Kerl in Berchtesgaden nicht gefunden hatte, machte ich mich schleunigst auf nach Berlin. Aber die Russen hatten schon entdeckt, was noch von Hitler, Eva Braun und seinen Hunden übrig geblieben war.
Benjamin Ferencz, 1920 in Transsilvanien geboren und 2023 in den USA verstorben, war amerikanischer Jurist. Als Soldat landete er 1944 mit den Alliierten in der Normandie, bald wurde er beauftragt, Beweise für die nationalsozialistischen Verbrechen zu ermitteln. Ab 1947 war der Harvard-Absolvent Chefankläger im Einsatzgruppen-Prozess, einem Nachfolgeverfahren des Hauptkriegsverbrecherprozesses in Nürnberg. Später setzte sich Ferencz viele Jahre lang für die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag ein. Mit dem Buch "'Sag immer Deine Wahrheit'. Was mich 100 Jahre Leben gelehrt haben" erschienen 2020 Ferencz' Lebenserinnerungen. Ferencz starb am 7. April im Alter von 103 Jahren in Florida (USA).
Sie haben das Grauen bei der Befreiung mehrerer deutscher Konzentrationslager mit eigenen Augen gesehen. Haben Sie jemals das Bedürfnis nach Rache verspürt?
Nein, Rache ist eine schreckliche Sache. Selbst angesichts dessen, was ich in den Konzentrationslagern erlebt habe. Es war der Blick in die Hölle: Horror, Horror, Horror. Überall lagen Tote, in der Luft stand der Gestank von verbrannten Menschen. Die Überlebenden waren zu Skeletten abgemagert, ihre Augen schrien nach Hilfe. Viele krochen mit letzter Kraft zu den Müllhaufen, um sie auf der Suche nach einem Kanten Brot zu durchwühlen. In allen deutschen Konzentrationslagern, die ich gesehen habe, war es gleich: Tod und Unmenschlichkeit.
Wie haben Sie damals den Schock verwunden?
Gar nicht. Oder besser gesagt, ich habe einen psychologischen Trick angewendet. Ich stellte mir vor, dass all dieser Schrecken gar nicht real wäre. Als wäre es eine Art Film. Anders hätte ich es nicht ertragen können. Aber so konnte ich unermüdlich weiter Belege für die begangenen Untaten sammeln. Zur Verwunderung der Russen.
Das müssen Sie erklären.
Einmal fragte mich ein Soldat der Roten Armee, was ich da eigentlich treiben würde. Ich erklärte ihm, dass ich ein Ermittler sei und Beweise für die Kriegsverbrechen der SS suchte. Er erkundigte sich, ob wir denn überhaupt nicht wüssten, was die SS-Leute getan hätten. Natürlich, antwortete ich ihm. "Erschießt sie doch einfach", war seine Reaktion. Aber Gewalt hatte es genug gegeben in diesem Krieg. Nun sollte wieder das Recht herrschen.
1947 wurden Sie dann Chefankläger im Einsatzgruppen-Prozess, einem der zwölf Nürnberger Nachfolgeverfahren. Wie kam es dazu? Sie waren gerade einmal 27 Jahre alt.
Und es war mein erster Fall überhaupt! Ich hatte niemals zuvor in einem Gerichtssaal gestanden, aber auf einmal war ich Chefankläger im größten Mordprozess der Geschichte. Das war kein Zufall. Zuvor war es meine Aufgabe gewesen, Beweise für die vielen Verbrechen zusammenzutragen. Einer meiner Mitarbeiter stieß dabei auf die "Ereignismeldungen UdSSR" der Einsatzgruppen der SS ...
... den mobilen Mordkommandos, die im Zweiten Weltkrieg hinter der Front insbesondere Juden umbrachten.
In Sachen Dokumentation waren die Deutschen immer sehr korrekt. Die Einsatzgruppen meldeten brav nach Berlin, was sie im Osten anrichteten. In den "Ereignismeldungen UdSSR" konnten wir dann ablesen, wie viele Zivilisten die Männer der Einsatzgruppen umgebracht hatten. Bei der Zahl von einer Million Ermordeten habe ich aufgehört zu zählen. Ein solches Verbrechen darf nicht ungesühnt bleiben, dachte ich damals.
Die deutschen Einsatzgruppen hatten Tausende Mitglieder in ihren Reihen, aber für die Anklagebank haben Sie nur 24 Männer ausgewählt. Warum?
Die Anklagebank in Nürnberg hatte nur 24 Plätze! Nein, im Ernst: Ich musste zwangsläufig eine Auswahl treffen. Und weil der Prozess gegen diese zwei Dutzend Männer niemals Gerechtigkeit für alle begangenen Morde herstellten konnte, musste er für etwas Größeres stehen. Die Angeklagten, gebildete und kluge Männer, allesamt in hohen Dienststellungen, hatten sich am Massenmord beteiligt, weil die Opfer eine andere ethnische Herkunft, Religion oder politische Überzeugung hatten. Solche Gräueltaten sollten nie wieder passieren! Das Recht aller Menschen, ungeachtet ihrer Herkunft und ihres Glaubens in Frieden und Würde zu leben, in Zukunft zu schützen: Darin bestand das übergeordnete Ziel dieses Prozesses.
Sie haben als junger Mann eine Gruppe der schlimmsten Massenmörder der Geschichte angeklagt. Was ging in Ihnen damals vor?
Ich war nicht nervös, wenn Sie das meinen. Wir wollten damals einfach die Welt zu einem besseren Ort machen. In meinem Eröffnungsplädoyer habe ich betont, dass nicht Rache das Ziel dieses Prozesses war. Das Verfahren war ein Plädoyer für Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit. Wir wollten dazu beitragen, dass in Zukunft niemand mehr wegen seiner Herkunft oder Religion ermordet werden würde.
Der SS-Gruppenführer Otto Ohlendorf, einst Befehlshaber der Einsatzgruppe D, war ihr Hauptangeklagter. Warum haben Sie gerade ihn ausgewählt?
Ohlendorf war ein sehr interessanter Mensch. Er war intelligent, hatte studiert, war selbst Vater von fünf Kindern. Wie wird ein solcher Mann zu einem Mörder? Wie können Menschen überhaupt derartige Verbrechen begehen? Die Antwort auf diese Fragen ist einfach – und sie ist überaus beunruhigend.
Wie lautet sie?
Die deutschen Massenmörder waren keine Monster. Verbrechen wie der Holocaust werden von ganz normalen Menschen begangen. Menschen, die glauben, dass sie mit dem Töten anderer eine patriotische Tat begehen würden. Menschen, denen von einem "Führer" erzählt wird, dass ihr Land bedroht wäre. Die Leiter der Einsatzgruppen glaubten das zu tun, was am besten für Deutschland wäre – selbst wenn es im Erschießen von wehrlosen Männern, Frauen und Kindern bestand. Und all der anderen schrecklichen Dinge, die ich 1945 in den deutschen Konzentrationslagern gesehen habe.
Der Vorsitzende Richter verglich Ohlendorf damals mit der Romanfigur Dr. Jekyll und Mr. Hyde des Schriftstellers Robert Louis Stevenson: Einerseits war er ein treusorgender Familienvater, andererseits trug er die Verantwortung für den Tod von 90.000 Menschen. Was hat Sie am meisten an Ohlendorf und den anderen Angeklagten irritiert?
Ihr Verhalten war beschämend. Nicht einer hat die Verantwortung für seine Taten übernommen, es gab nicht einmal so etwas wie Trauer. Die einzigen, die ihnen leidtaten, waren sie selbst. Nicht etwa die Ermordeten. Das empfand ich als große Enttäuschung.
Ohlendorfs Aussage im Prozess verschlug damals allen Anwesenden im Gerichtssaal die Sprache.
Ohlendorf wusste, dass er am Galgen enden würde. Entsprechend war er ziemlich ehrlich. Ohlendorf gab ohne Umschweife zu, dass die Juden umgebracht worden waren, weil sie Juden waren. Dann wurde er gefragt, warum seine Leute auch die Kinder getötet hatten. Ohlendorf sagte sinngemäß: Weil sie sonst irgendwann erwachsen geworden wären – und dann auf Rache aus wären, weil wir ihre Eltern erschossen haben. Das war seine Denkweise. Und auf perverse Art und Weise ergab sie sogar Sinn. So eine Mentalität kann aus anständigen Menschen Mörder machen. Um das zu verhindern, braucht es die Herrschaft des Rechts.
Sie haben Ohlendorf nach dem Todesurteil noch besucht.
Ja, das war sehr ein unangenehmes Erlebnis. Ich fragte ihn auf Deutsch, ob ich noch etwas für ihn tun könne. Ohlendorf zeigte immer noch keinerlei Bedauern. Stattdessen verkündete er, dass ich eines Tages einsehen würde, dass er recht habe. Ich bin dann wieder gegangen. Später hat man mich zu seiner Hinrichtung eingeladen. Darauf habe ich verzichtet.
22 Männer wurden im Einsatzgruppenprozess verurteilt. Von den ergangenen Todesurteilen sind viele nicht vollstreckt worden, zu Haftstrafen Verurteilte kamen teils viel früher wieder frei. Was halten Sie als damaliger Chefankläger davon?
Ich halte das bis heute für falsch. Es untergräbt die Rechtsstaatlichkeit, wenn man Menschen, die solche Taten begangen haben, zu früh entlässt.
Wie ist Ihr Verhältnis zu Deutschland heute, dem Land, von dem der Massenmord an den Juden ausging?
Es ist gut. Verstehen Sie das bitte nicht falsch: Die Deutschen sind grundsätzlich nicht besser oder schlechter als andere Völker. Genauso gut kann in einem anderen Land erneut eine mörderische Ideologie entstehen. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig, dass es ein internationales Recht gibt. Damit deutliche Grenzen gesetzt sind. Und damit sich jeder Mensch bewusst ist, dass er Verpflichtungen hat.
Welche?
Jeder auf dieser Erde hat die Pflicht, sich wie ein Mensch zu benehmen und nicht wie ein wildes Tier. Damals war es Deutschland, aber seitdem sind auch in anderen Teilen der Welt schlimmste Verbrechen verübt worden. Die Menschheit muss lernen, anders zu denken. Nicht mehr in nationalen Bahnen, sondern in globalen. Ich meine, wir haben nur diesen kleinen, blauen Planeten: Wenn wir nicht vorsichtig sind, wird er irgendwann nur ein weiterer toter Himmelskörper sein. Wie es so viele in unserem Universum gibt.
Aber konkreter: Was sollten wir Ihrer Meinung nach tun, um die Welt sicherer und friedlicher zu machen?
Wir geben zu viel Geld aus, um andere Leute zu töten. Es sollte besser dafür verwendet werden, allen Leuten ein besseres Leben zu ermöglichen. Das hat die Menschheit noch nicht kapiert. Und wir haben nicht mehr viel Zeit, denn der nächste große Krieg könnte uns alle umbringen. Er könnte aus dem Cyberspace kommen. Wir müssen abrüsten. Und den Menschenrechten überall auf der Welt Geltung verschaffen. Ein großer Fortschritt ist durch die Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag erzielt worden. Seitdem dürfen sich Massenmörder etwas weniger sicher fühlen.
Die Einrichtung dieses Gerichts ist auch Ihr Verdienst.
Ich habe versucht, etwas beizutragen. Es wird wahrscheinlich immer wieder Leute geben, die sich selbst als "Herrenvolk" wähnen. Wir müssen vorsichtig sein.
Gibt es ein Land, das Sie in der Gegenwart als Gefahr für den Frieden betrachten?
Ich würde viel grundsätzlicher beginnen: Die Gefahr für den Frieden beginnt, wenn eine Mehrheit anfängt, die Diskriminierung einer Minderheit zu akzeptieren – egal, wo dies auf der Welt geschieht. Immer, wenn jemand "Deutschland über alles!" oder "America First!" hinausposaunt, droht Unheil!
Womit wir beim ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump angelangt sind. Wie bewerten Sie seine Präsidentschaft?
Donald Trump ist ein Lügner, Vergewaltiger und Mörder, ich verabscheue ihn. Er hat Corona verharmlost und den Menschen gesagt, sie müssten keine Masken tragen. Dann hat er 2020 noch ganz zum Schluss seiner Präsidentschaft den iranischen General Qasem Soleimani im Irak mittels einer Drohne töten lassen. Das war nichts anderes als Mord. Ich hoffe, dass Joe Biden vieles besser machen wird.
Wenn Sie heute auf die Nürnberger Prozesse zurückblicken: Welche Lehre sollte die Menschheit aus ihnen ziehen?
Es ist eine sehr einfache Lektion: Gib niemals auf! Jeder kann die Welt ein wenig besser machen. Die Herrschaft des Gesetzes ist immer besser als die Herrschaft der Waffen.
Sie sind mittlerweile 101 Jahre alt und setzen sich immer noch für eine gerechtere Welt ein. Wann werden Sie sich zur Ruhe setzen?
Niemals. Ich habe gar keine Zeit zu sterben, es ist noch so viel zu tun. Also mache ich einfach weiter.
Herr Ferencz, vielen Dank für das Gespräch.
Dieses Interview wurde nach dem Tod von Benjamin Ferencz im April 2023 aktualisiert und neu publiziert.
- Persönliches Gespräch mit Benjamin Ferencz via Telefon