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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Was wäre, wenn? "Hitler und Konsorten hätten niemals haltgemacht"
Die Nazis erobern die USA, die SED lässt 1989 auf das Volk schießen: Derartige Geschichtsfantasien gibt es immer wieder. Historiker Richard J. Evans erklärt, was davon zu halten ist.
Was wäre geschehen, wenn Adolf Hitler 1933 bei einem Autounfall gestorben wäre? Wenn Napoleon Bonaparte 1815 die Schlacht von Waterloo siegreich beendet hätte? Oder John F. Kennedy dem tödlichen Attentat von Dallas im November 1963 entgangen wäre? Alternative Geschichtsfantasien haben Allzeitkonjunktur, in Kino und Fernsehen, im Buchregal, aber auch bisweilen unter Experten.
Richard J. Evans ist einer der bedeutendsten Historiker Großbritanniens. Im Gespräch mit t-online erklärt er, was an der sogenannten kontrafaktischen Geschichte dran ist. Einer Fantasiewelt, in der die Nazis die USA beherrschen könnten, die Mauer nicht gefallen wäre und Großbritannien immer noch ein Weltreich regieren würde.
t-online: Professor Evans, Adolf Hitler hat den Zweiten Weltkrieg ohne jeden Zweifel verloren, in der DDR hat die SED-Führung die Volksarmee definitiv nicht auf die friedlich demonstrierenden Bürger im Herbst 1989 schießen lassen. Warum aber hat die sogenannte virtuelle Geschichte so viele Anhänger? In diesen Gedankenspielen sind die Nazis etwa in New York einmarschiert.
Richard J. Evans: Ich kann die Faszination für alternative Geschichtsverläufe absolut nachvollziehen. Aber man muss sich bewusst machen, dass es sich dabei um Produkte der Fantasie handelt. Natürlich beinhaltet diese Vorstellung einen gewissen Nervenkitzel, aber es ist und bleibt Fantasie.
Bleiben wir beim Beispiel Hitler und der Zweite Weltkrieg. Warum war es unmöglich, dass Deutschland am Ende siegen konnte?
Der Zweite Weltkrieg war ein sehr komplexer Konflikt, aber der Schlüssel zu einem Sieg darin lag im Wesentlichen im Faktor Wirtschaft begründet. Die wirtschaftliche Macht der Alliierten Großbritannien und Sowjetunion, später auch der USA, war einfach viel größer als die des nationalsozialistischen Deutschlands.
1992 veröffentlichte Ihr Landsmann Robert Harris mit dem Roman "Vaterland" einen Klassiker der kontrafaktischen Geschichte, wie man sie auch nennt …
… ich bin ein großer Fan von Harris' Büchern!
Richard J. Evans, Jahrgang 1947, war von 1998 bis 2008 Professor für Neuere Geschichte an der Cambridge University. Von 2008 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2014 war er Regius Professor für Geschichte. Der Historiker ist Spezialist für deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere für die Zeit des Nationalsozialismus. Seine dreibändige Darstellung des "Dritten Reichs" gilt als Standardwerk. 2014 veröffentlichte er das Buch "Veränderte Vergangenheiten:
Über kontrafaktisches Erzählen in der Geschichte".
In der Handlung haben die siegreichen Nazis Europa unterworfen und befinden sich mit den USA in einer Art Kaltem Krieg. Berlin wurde zur Hitlers Traumstadt Germania, während die Nazis versuchen, die Spuren des Holocaust durch die Ausschaltung der Mitwisser zu beseitigen.
Es ist ein spannender, aber historisch gesehen völlig unglaubwürdiger Plot. Obwohl Harris sehr gut recherchiert hat, etwa in seiner Beschreibung der gigantomanischen Welthauptstadt, die Hitler und sein Architekt Albert Speer geplant hatten. Aber die Voraussetzungen sind falsch: Nach einem derart großen Sieg hätten die Nazis sicher nicht die letzten Spuren des Holocaust verwischt. Eher hätte Hitler die Vernichtung der Juden als Triumph dargestellt. Vor allem aber ist Harris' Bild einer stabilen Nachkriegsordnung in Europa unter den Nationalsozialisten völlig irreführend.
Bitte erklären Sie das näher.
Der Nationalsozialismus war eine politisch-gesellschaftliche Kraft von hoher Dynamik. Anders gesagt: Hitler und Konsorten hätten niemals haltgemacht, sondern immer weiter Krieg geführt. Das Ziel hätte in der Eroberung der ganzen Welt bestanden. Wenn die Nazis den Krieg in Europa gewonnen hätten, dann hätten sie mit Amerika weitergekämpft. Wenn die USA besiegt gewesen wären, hätten sie den nächsten Gegner gesucht. Für die Nazis waren Kriege nötig, um das deutsche Volk nicht "verweichlichen" zu lassen, um es in deren ideologischem Vokabular auszudrücken.
Wie verhält es sich mit dem Kult der Selbstaufopferung, den die Nazis pflegten?
Auch dies ist ein Faktor, dessen Dynamik wir nicht unterschätzen dürfen. Es ist erstaunlich, wie viele führende oder auch untergeordnete Männer des "Dritten Reichs" am Ende Suizid neben Hitler begingen: zum Beispiel Joseph Goebbels, Hermann Göring, dazu auch viele hohe Offiziere und etwa Gauleiter. Diese Form der Selbstaufopferung für eine mögliche bessere "Zukunft" ist zentral für die NS-Ideologie: Die Nazis hätten in jedem Fall bis zum bitteren Ende gekämpft. Ohne Rücksicht auf Verluste.
Harris Roman ist 1992 erschienen, zwei Jahre nachdem es zur Beunruhigung mancher Briten wieder ein vereintes Deutschland gab.
Harris Roman ist sogar in gewisser Weise Spiegelbild einer wiederaufgeflammten Diskussion in Großbritannien über Europa. In dieser Zeit liegen auch die Wurzeln des Brexits: Man kann das ganz deutlich an den Meinungsumfragen ablesen. Seit der Wiedervereinigung ist die Meinung der Briten über Deutschland deutlich negativer geworden. Es gibt eine völlig abwegige Ansicht unter manchen Brexit-Anhängern, dass die Europäische Union eine Art Neuauflage von Hitlers geplantem Europa sei.
Sprechen wir doch an dieser Stelle über den 9. November 1989, ein Ereignis, das ebenfalls immer wieder einlädt, über einen ganz anderen Geschichtsverlauf nachzudenken. Wenn etwa die SED die Panzer hätte rollen lassen und daraufhin die westlichen Alliierten eingeschritten wären.
Der 9. November 1989 ist in der Tat ein gutes Beispiel, um zu zeigen, dass kontrafaktische Geschichte eher in die Belletristik gehört. Zugegeben, der Mauerfall an diesem Novembertag kam überraschend. Aber als Historiker blicke ich rückwirkend auf die Entwicklung. Und dabei wird deutlich, dass eine gravierende Änderung in der DDR extrem wahrscheinlich geworden war: Der Wirtschaft ging es miserabel, das konnte man nicht übersehen. Dazu hatte Michael Gorbatschow bereits 1988 deutlich erklärt, dass jeder Staat des Ostblocks fortan sein eigenes System frei wählen dürfte. Unterstützung durch die sowjetischen Streitkräfte in der DDR konnte sich die SED damals also nicht erhoffen. Also verzichteten Erich Honecker und die anderen auf die "chinesische Lösung".
Sie spielen auf die gewaltsame Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung im Juni des Jahres an.
Genau. Die "chinesische Lösung" erschien der SED zu gefährlich, weil man nicht wusste, welche Folgen sie zeitigen würde. Ich war selbst ein paar Monate vor dem Mauerfall in der DDR gewesen und man merkte deutlich, dass die Stimmung unter der Bevölkerung eine ganz andere war als früher. Rückblickend kann man sagen, dass ein Wandel in Ostdeutschland mehr oder weniger unvermeidlich war. Wann genau und auf welche Weise, das war natürlich nicht absehbar.
Auch die westlichen Geheimdienste waren recht überrascht.
Die Erklärung von Günter Schabowski am 9. November 1989, wonach die Grenze durchlässig wurde, kam für alle unerwartet. Auch für uns Historiker. Und genau das ist das Faszinierende an der Geschichtswissenschaft: die Wechselwirkung zwischen langfristigen Entwicklungen und kurzfristigen Ereignissen.
Neben Romanautoren versuchen sich seit einiger Zeit auch Historiker in kontrafaktischer Geschichte. Interessanterweise vor allem aus dem eher konservativen Spektrum.
Ja, es sind vor allem Kollegen aus den USA und Großbritannien, auch ein paar aus Deutschland. Aus diesem Grund habe ich mich vor einigen Jahren mit dem Thema auseinandergesetzt. Und kam zu dem Schluss, dass die kontrafaktische Geschichte so gut wie keinen Nutzen für die seriöse Geschichtsschreibung hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich lese sehr gern Bücher aus diesem Genre oder schaue Derartiges als Film an. Aber ein anderer Geschichtsverlauf als der tatsächliche ist nicht mehr als Wunschdenken, das auf einer Art Taschenspielertrick beruht.
Welcher Kunstgriff ist das?
Ein Klassiker ist, dass Hitler vorzeitig umgekommen wäre, bevor er den Zweiten Weltkrieg vom Zaun brechen konnte. Ein anderes Beispiel wäre, dass Großbritannien Deutschland nicht den Krieg erklärt nach dem Überfall auf Polen im September 1939. Entsprechend wäre es unserer Wirtschaft besser gegangen langfristig und Großbritannien wäre noch im Besitz seines Weltreichs. Dieses Szenario entspricht dem Wunschdenken einer bestimmten Gruppe von Konservativen in meinem Land. Denn dann wäre Großbritannien auch niemals der EU beigetreten.
Es reihen sich sehr viele "Wenns" in Ihrem Beispiel aneinander …
Und genau das ist das Problem. Die sogenannte kontrafaktische Geschichte beruht auf einer relativ kleinen oder individuellen Veränderung im Lauf der Geschichte. Diese Veränderung löst dann zwangsläufig eine ganze Kette von weiteren Ereignissen aus. Langfristige Entwicklungen werden ausgeklammert wie auch der Faktor des Zufalls. Wenn Großbritannien sich aus dem Ersten Weltkrieg herausgehalten hätte, ist immer noch unklar, ob sich Kaiser Wilhelm II. und seine Generäle nicht doch zum Kampf gegen das Inselreich entschieden hätten. Oder Großbritannien hätte doch aus einem Zufallsereignis heraus dem Deutschen Reich den Krieg erklärt. Je mehr man sich vom ursprünglichen Verlauf der Geschichtsentwicklung entfernt, desto unplausibler wird es.
Vor allem sind die "großen Männer" die historische Kraft in dieser Herangehensweise.
Ja, was auch erklärt, warum sich eher konservative Historiker mit dem Thema beschäftigen. Dabei werden aber, wie gesagt, die langfristigen Entwicklungen außer Acht gelassen. Nehmen wir noch mal das Beispiel Hitler. Die Entstehung des "Dritten Reichs" ist nicht allein auf ihn als Individuum zurückzuführen. Dazu gehörte mehr – wie etwa der für Deutschland verlorene Erste Weltkrieg, der Versailler Vertrag, die dysfunktionale politische Kultur der Republik von Weimar, der Aufstieg rechtsgerichteten Denkens in dieser Zeit. Nicht zu vergessen die desaströse wirtschaftliche Lage Deutschlands Ende der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts. Natürlich ist es einfacher, Hitler als alleinigen Urheber zu sehen. Aber das greift viel zu kurz.
Otto von Bismarck hat einmal vom "Strom der Zeit" gesprochen, den der Mensch weder "schaffen" noch "lenken" könne, sondern nur darauf "hinfahren" und "steuern".
Bei ihm kommen zwei bemerkenswerte Dinge zusammen. Otto von Bismarck war einer der "großen" Männer, die Geschichte machten. Zugleich wusste er aber sehr wohl um die langen Linien der historischen Entwicklung. Im Strom der Geschichte segelte er also einen Kurs, in der Hoffnung, dass das Staatsschiff keinen Schiffbruch erleiden würde.
Professor Evans, vielen Dank für das Gespräch.
- Gespräch via Videokonferenz