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Ukraine: Klitschko gegen Selenskyj – Kampf um die Macht in Kiew?


Machtkampf in der Ukraine
"Seine Meinung über manche großen Probleme ist falsch"


07.09.2024Lesedauer: 5 Min.
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Vitali Klitschko (Archivbild): Der frühere Boxweltmeister ist Kiews Bürgermeister. (Quelle: imago)

Vitali Klitschko ist einer der härtesten Kritiker der Regierung von Wolodymyr Selenskyj. In einem neuen Dokumentarfilm erhebt der Ex-Boxweltmeister erneut schwere Vorwürfe gegen den ukrainischen Präsidenten.

Eigentlich hat Vitali Klitschko andere, dringende Dinge zu erledigen. Der Bürgermeister von Kiew regiert die ukrainische Hauptstadt mitten in einem Krieg. Und besonders in diesem ersten Kriegswinter attackiert Russland vehement die Energieinfrastruktur der Ukraine. In vielen Regionen mangelt es an Strom und Wasser, auch in Kiew frieren die Menschen, weil ihre Wohnungen nicht beheizt werden können.

Trotzdem nimmt Klitschko im Februar 2023 den mehr als 500 Kilometer langen Weg nach Lwiw an der polnischen Grenze für einen Gerichtsprozess auf sich. "Wir sind hergekommen, um die dezentralisierte Regierung zu verteidigen", erklärt der ehemalige Boxweltmeister vor dem Berufungsgericht in Lwiw. Er spricht von einem "beispiellosen" Fall in der Geschichte der Ukraine. "Die Leute in der Zentralregierung wollen absolute Macht", wird er später rückblickend über den Fall sagen.

Die Regierung in Kiew von Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich dem Kampf gegen die Korruption verschrieben und nimmt dabei besonders lokale Regierungen ins Visier. Immer wieder werden Bürgermeister und andere Volksvertreter festgenommen. Viele von ihnen sehen darin lediglich den Versuch Selenskyjs, seine Macht auszubauen.

Mitten im Krieg scheinen sich die innenpolitischen Gräben in der Ukraine zu vertiefen – und dabei schaufelt nicht nur Selenskyj mit, sondern auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko.

Selenskyj gegen die Bürgermeister?

Die Szenen aus Lwiw entstammen dem neuen Dokumentarfilm "Klitschko – Der härteste Kampf" von Regisseur Kevin Macdonald. Sie machen den zentralen Konflikt in der ukrainischen Innenpolitik deutlich. Wie viel Macht sollte die Zentralregierung eines kriegsgebeutelten Landes auf sich vereinen? Wie viel lokale Selbstverwaltung ist in solchen Zeiten notwendig und vielleicht auch angebracht? Und wo sollten die Gelder des ukrainischen Staates während dieses Krieges eher hinfließen: ins Militär oder den Wiederaufbau des Landes? Das alles sind Fragen, die im Angesicht des Krieges untergehen und die der Film thematisiert.

Um dies zu veranschaulichen, begleiteten die Filmemacher Klitschko in jenem Februar 2023 nach Lwiw: Der damalige Bürgermeister der nordukrainischen Stadt Tschernihiw, Wladislaw Atroschenko, hatte in einem Korruptionsprozess Berufung eingelegt. Zwei Monate zuvor war er von einem Gericht suspendiert und mit einer Geldstrafe belegt worden. Atroschenko hatte seine Familie zu Beginn der russischen Invasion mit seinem Dienstwagen außer Landes bringen lassen und die Nationale Korruptionspräventionsbehörde sah darin einen Interessenkonflikt. Atroschenko wollte sich das nicht gefallen lassen: Das Berufungsgericht aber gab ihm nur teilweise recht, lediglich die Geldstrafe wurde ihm erlassen – die Suspendierung blieb.

Mit Vitali Klitschko hat Atroschenko einen lautstarken Mitstreiter gefunden. Klitschko ist nicht nur Kiews Bürgermeister, sondern auch Chef der Vereinigung der ukrainischen Städte, eines kommunalen Verbands ähnlich dem Deutschen Städtetag. Als solcher hat Klitschko viel Macht und große Aufmerksamkeit. Und er will das offenbar nutzen, um den Konflikt zwischen der Zentralregierung und den lokalen Verwaltungen auf die größtmögliche Bühne zu bringen.

Die Ukraine und die Korruption

"Die Politik in der Ukraine ist ein tiefes, trübes Gewässer", erklärt Klitschko in dem Dokumentarfilm. Zwar sei bereits eine ganze Generation in der unabhängigen Ukraine aufgewachsen, "dennoch ist das System heute noch immer sowjetisch". Die Ukraine hatte sich 1991 nach dem Zerfall der Sowjetunion unabhängig gemacht. Klitschko, der damals 20 Jahre alt war, bezeichnet die Zeit danach als "kompliziert" und geprägt von "großem Elend". Damals habe sich Kriminalität und Korruption breitgemacht.

Im Korruptionswahrnehmungsindex von Transparency International belegte die Ukraine im vergangenen Jahr den 104. Platz. Länder wie Belarus, China, Jamaika oder Kolumbien gelten als weniger korrupt. Selenskyj machte sich als Präsident daran, das zu ändern. Mit Ausrufung des Kriegsrechts bekam die Zentralregierung weitreichende Befugnisse, lokale Regierungen wurden durch Militärverwaltungen ersetzt. Dazu konnten in diesem Jahr turnusgemäß keine Wahlen stattfinden – das Kriegsrecht verbietet dies.

Schwere Vorwürfe gegen Selenskyj

Die Kritik an Selenskyj und seinem angeblichen Streben nach immer mehr Macht wächst angesichts dessen, der Kampf gegen die Korruption scheint manchmal in den Hintergrund zu rücken. Klitschko sagte im vergangenen Dezember im Gespräch mit dem "Spiegel", dass er sein Land auf dem Weg in den Autoritarismus sehe. "Wir unterscheiden uns dann irgendwann nicht mehr von Russland, wo alles von der Laune eines einzelnen Mannes abhängt", sagte er damals. Seine Worte schlugen hohe Wellen, sie warfen ein Schlaglicht auf den Konflikt zwischen Selenskyj und der Boxlegende.

Im Klitschko-Dokumentarfilm aber wiegelt Präsidentenberater Mychajlo Podoljak ab: Klitschko werde zu viel Aufmerksamkeit geschenkt. "Seine Meinung über manche großen Probleme ist falsch", sagt Podoljak da. Grundsätzlich könne die Ukraine kein autoritärer Staat werden. "Viele Leute, die hier in bestimmte Machtpositionen gelangen, überschätzen ihre Wichtigkeit." Und viele von ihnen würden süchtig nach dem Nervenkitzel des Erfolgs oder Misserfolgs. Es sei "klar", dass Klitschko Ambitionen auf das Präsidentenamt hege. Das Präsidentenbüro selbst wollte sich in Person von Selenskyj im Rahmen des Films nicht äußern.

Klitschko weist höhere Ambitionen von sich. "Ich habe es nie als Ziel gesehen, ein bestimmtes Amt zu bekleiden", erklärt Kiews Bürgermeister. "Wandel", das sei sein Hauptziel.

Ukrainer halten Klitschko laut Umfrage für wenig vertrauenswürdig

Außerdem macht sich Klitschko für eine Regierung der Nationalen Einheit, also unter Einbeziehung der Opposition, stark. Das ist auch eine Forderung des ehemaligen Präsidenten und Oligarchen Petro Poroschenko. Die beiden Männer sind politisch eng verbandelt: 2019 zog Klitschko seine Präsidentschaftskandidatur zurück, um Poroschenko zu unterstützen. Selenskyj gewann die Wahlen aber mit rund 73 Prozent.

Klitschkos lautstarke Kritik am Präsidenten könnte mit dazu beigetragen haben, dass die Umfragewerte des Bürgermeisters sinken. Noch im vergangenen Dezember hielten ihn 52 Prozent in einer Umfrage des Internationalen Instituts für Soziologie Kiew (KIIS) für vertrauenswürdig. Damit lag er auf Platz drei der aktiven Politiker, Selenskyj mit 77 Prozent auf dem ersten Rang. Im Februar aber war Klitschkos Vertrauensbilanz plötzlich negativ.

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In einer weiteren KIIS-Umfrage sprachen ihm nur noch 45 Prozent ihr Vertrauen aus, 51 Prozent gaben hingegen an, ihn nicht für vertrauenswürdig zu halten. Auch Selenskyj kam im Februar nur noch auf 64 Prozent Zustimmung. Der Streit der beiden Männer und die offensichtlichen Risse zwischen Schlüsselfiguren des Landes dürften zum allgemeinen Vertrauensverlust beigetragen haben.

"Aber wofür kämpfen wir am Ende des Tages?"

Das ist aber nicht Klitschkos einziges Problem. Auch die Bürger Kiews stehen längst nicht mehr geeint hinter ihrem Bürgermeister. Vor allem umstrittene Bauprojekte erregen immer wieder Unmut und es gibt Demonstrationen gegen die Stadtverwaltung. Manche Kritiker werfen Klitschko vor, Bauunternehmern in Kiew freie Hand zu lassen. Das führe einerseits dazu, dass viele historische Gebäude abgerissen und andererseits wichtige Infrastrukturprojekte vernachlässigt werden.

"Es ist einfach zu sagen: Als Bürgermeister trage ich die Verantwortung für alles in der Stadt", sagte Klitschko der US-Zeitung "Politico". Einerseits stimme das zwar, "aber es gibt Nuancen". Die Stadt Kiew nämlich erteilt laut seinen Angaben keine Baugenehmigungen und habe keinen Einfluss auf die Bauträger, die historische Gebäude besitzen. Er wisse, wie wichtig es sei, das Kulturerbe zu erhalten und er tue alles dafür. Schuld sei aber die Zentralregierung, die die Umsetzung eines Gesetzesentwurfs aus Kiew verhindere, der historische Gebäude vor Misswirtschaft schützen soll. Die gegenseitigen Schuldzuweisungen gehen also weiter.

"Der Bürgermeister glaubt einfach, dass der Stadthaushalt sein eigenes Portemonnaie ist", sagt eine Demonstrantin, die im Klitschko-Dokumentarfilm zu Wort kommt. Alle verfügbaren Ressourcen sollten ihrer Meinung nach aber an die Streitkräfte gehen.

Auch Klitschko sagt, dass alles für die Verteidiger des Landes getan werden müsse. "Aber wofür kämpfen wir am Ende des Tages? Wir kämpfen, damit wir glückliche, normale Leben führen können." Aber die ukrainische Gesellschaft sei demokratisch, so Klitschko: "Jeder darf seine Gedanken ausdrücken."

Der Sky Original-Dokumentarfilm "Klitschko – Der härteste Kampf" von Regisseur Kevin Macdonald ist ab dem 13. September 2024 exklusiv bei Sky und dem Streamingdienst WOW zu sehen.

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