Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewinnt Putin den Ukraine-Krieg? In Russland herrscht die Angst
Die ukrainische Armee gerät im Krieg gegen Russland immer mehr unter Druck. Bricht der Widerstand der Ukraine bald zusammen? Wladimir Putins Plan hat vor allem einen Haken.
Wladimir Putin steht auf dem Roten Platz. Zur Feier der Annexion der Krim im März 2014 gibt es am Montag ein großes Popkonzert. Der Kremlchef dankt seinen Unterstützern bei der Wahl, rühmt sich für die "Heimkehr" der von Moskau für annektiert erklärten ukrainischen Gebiete. Er lässt sich feiern und verkauft seinen Sieg bei der Präsidentschaftswahl in Russland als Rückendeckung für seinen Angriffskrieg in der Ukraine und für seinen Bruch mit dem Westen vor zwei Jahren. Putin sieht sich momentan im Aufwind. Für ihn läuft es derzeit ausgesprochen gut, zumindest auf den ersten Blick.
Unter Putin wurde Russland immer mehr zur Diktatur. Politische Gegner sitzen im Gefängnis, werden getötet oder sind längst nicht mehr im Land. Es gibt gläserne Wahlurnen, Soldaten in Wahllokalen, keine neutralen Wahlbeobachter und vom Kreml handverlesene Kandidaten, die Putin am Montag teilweise in den Kreml bestellen ließ, um ihm zu gratulieren. Deswegen sind die 87 Prozent der Stimmen, die der russische Diktator bei Wahl bekommen haben soll, keine Überraschung. Denn fest steht: In Russland regiert die Angst.
Putin wird das Wahlergebnis dafür nutzen, seinen Krieg in der Ukraine mit kompromissloser Gewalt weiterzuführen. Doch während die ukrainische Armee aufgrund von Munitionsmangel immer weiter zurückgedrängt wird, wachen zumindest Teile des Westens langsam aus ihrem Winterschlaf auf. Erneut spät, aber nicht zu spät. Die Lage für die Ukraine ist ernst, aber Putin ist noch immer auf einem Irrweg. Denn der Kremlchef läuft unbeirrbar weiter in sein persönliches Vietnam.
Die russische Armee ist in der Offensive
Die "Rückkehr in die Heimat" habe sich als "schwieriger, tragischer" erwiesen – "aber wir haben es geschafft, und das ist ein großes Ereignis in der Geschichte unseres Staates", ruft Putin am Montag in Moskau. "Hand in Hand werden wir voranschreiten und das wird uns stärker machen (...) Lang lebe Russland!"
Doch geschafft ist für Russland noch gar nichts. Zwar hält die russische Armee 19 Prozent des ukrainischen Staatsgebietes besetzt, aber nicht einmal die von Moskau annektierten Oblasten Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja sind vollständig erobert. Stattdessen ist es ein zermürbender Abnutzungskampf um jeden Kilometer, an den Fronten bewegt sich noch immer wenig – trotz massiver Nachschubprobleme der Ukraine.
Die russische Propaganda feiert dennoch jede Einnahme eines ukrainischen Dorfes als großen Sieg. So hat die russische Armee nach Angaben aus Moskau die Kontrolle über das Dorf Orliwka an der Front in der Ostukraine übernommen. Das etwa vier Kilometer von der Stadt Awdijiwka entfernte Dorf sei "befreit" worden, erklärt das russische Verteidigungsministerium am Dienstag. Auch habe die Armee in dem Gebiet "ihre Stellungen verbessert".
Vor etwas mehr als einem Monat hatten die russischen Truppen Awdijiwka unter ihre Kontrolle gebracht. Ende Februar hatte sich die ukrainische Armee aus dem Nachbardorf Lastotschkyne zurückgezogen und angegeben, sich hinter neuen Verteidigungslinien in Orliwka zu verschanzen, um den russischen Vormarsch aufzuhalten.
Russland erzielt derzeit im Südosten Geländegewinne, weil dort ukrainische Verteidigungsstellungen noch nicht ausgebaut sind. "Die Ukrainer haben das Problem, dass sie im Raum Awdijiwka erst spät damit angefangen haben, eine gute zweite Verteidigungslinie auszubauen", sagte der Militärexperte Gustav Gressel Ende Februar t-online. "Die Stellungen werden meistens durch die dort eingesetzten Truppen direkt ausgehoben. Deswegen sind die Verteidigungsstellungen nicht so ausgebaut, wie sie eigentlich sein sollten."
"Die Ukraine könnte zusammenbrechen"
Das führt zu Schwachstellen in der ukrainischen Front, die Russland aktuell für Geländegewinne nutzen kann. Das bedeutet jedoch nicht, dass die russische Armee die nachgelagerten Verteidigungslinien kurzfristig überwinden kann. Ein Durchbruch ist zumindest aktuell noch nicht in Sicht.
Trotzdem ist die Alarmstimmung im Westen berechtigt. Ukrainische Soldaten berichten, dass sie auf zehn Schüsse mit russischer Artillerie mit nur einem Schuss reagieren können. Das ist fatal, zumal die USA als Unterstützer für die Ukraine durch die Blockade der Republikaner im US-Kongress noch immer ausfallen.
Der Militärhistoriker Sönke Neitzel erklärt im ZDF-"Morgenmagazin" am Dienstag: "Die Ukraine ist sicherlich jetzt massiv unter Druck." Es werde von Experten nicht mehr ausgeschlossen, dass "die Ukraine zusammenbrechen kann". "Es ist eine deutlich andere Lage als vor einem Jahr." Anfang hatte 2023 hatten sich die westlichen Unterstützer der Ukraine etwa für Panzerlieferungen entschieden. Das machte Hoffnung auf eine ukrainische Gegenoffensive im Sommer, die allerdings auch größtenteils an den russischen Verteidigungslinien scheiterte.
Die russische Führung hat im Laufe ihres Angriffskrieges dazugelernt, wenngleich es der Ukraine noch immer gelingt, Russland empfindlich zu treffen. Etwa durch die Angriffe auf die russische Kriegsmarine im Schwarzen Meer oder durch ukrainische Vorstöße auf russisches Territorium im Raum Belgorod und Kursk. Vor allem die gezielten Angriffe auf Öllager treffen Russland ins Mark, das ist anhand von Putins Reaktionen erkennbar. Aufgrund der Verluste von Kriegsschiffen im Schwarzen Meer setzt er Marinechef Nikolai Jewmenow ab. Mit Blick auf Russen, die in Russland für die Ukraine kämpfen, spricht er von "Verrätern" und "Abschaum" und fordert den Geheimdienst FSB auf, diese Kräfte zu identifizieren und zu bestrafen.
Diese militärischen Aktionen der Ukraine sollen den Verteidigern aber vor allem eines bringen: Zeit. Sie sind ein Ablenkungsmanöver, das Russland beschäftigen soll, bis endlich ausreichend Nachschub aus dem Westen eintrifft. Das zumindest ist die Hoffnung in Kiew.
Besser spät als nie: Mehr Munition für die Ukraine
Putin hat sich früh auf einen längeren Abnutzungskrieg eingestellt. Die russische Wirtschaft wurde auf Kriegsproduktion umgestellt, Artilleriemunition aus Nordkorea und Drohnen aus dem Iran gekauft. Das alles sind Gründe, warum Russland die Ukraine weiterhin unter Dauerfeuer nehmen kann.
Viele westliche Staaten haben dagegen sehr lange gewartet. Erst jetzt erwachen sie aufgrund der dramatischen Lage aus dem Winterschlaf. Plötzlich geht etwas: Durch eine Initiative Tschechiens kommen 800.000 Schuss Artilleriemunition zusammen und auch Deutschland gibt kurzfristig noch einmal 10.000 Schuss aus Bundeswehrbeständen dazu, wie Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) bei einem Treffen der sogenannten Ukraine-Kontaktgruppe auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein verkündet. Außerdem forcieren Deutschland, Frankreich und Polen eine Koalition für die Lieferung von Raketenartillerien. Die französische Regierung hat ihren Widerstand für den Kauf von Munition im Ausland aufgegeben.
Ohne Frage sind das für die Ukraine wichtige Schritte in die richtige Richtung. Allerdings kommen sie erneut sehr spät. Seit einigen Monaten war die gegenwärtige Situation an der Ukraine-Front absehbar. Seit den ersten Kriegsmonaten sprechen westliche Politiker darüber, dass Putin auf einen Abnutzungskrieg abzielt. Aber die Konsequenzen in der Beschaffung blieben lange aus.
Stattdessen diskutiert Deutschland über die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schimpft am Dienstag bei der Konferenz "Europe 2024" in Berlin: "Die Debatte in Deutschland ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten." Er verweist darauf, dass Deutschland der zweitgrößte Waffenlieferant der Ukraine ist und dies im Ausland auch anerkannt werde. Die Taurus-Debatte dagegen sei "peinlich für uns als Land".
Scholz wirbt für mehr Besonnenheit, aber er hat seine Absage an Taurus nie wirklich begründet. Deshalb gewann die Debatte um die deutschen Marschflugkörper dann an Fahrt, als die Ukraine immer weiter in die Defensive geriet. Es ist klar, dass die Bevölkerung und weite Teile der Politik über die Lieferung weiterer Waffensysteme diskutieren, wenn der Kanzler die Menschen mit dem Satz "die Ukraine darf nicht verlieren" kommunikativ alleine lässt.
Russland hat keinen Plan
Dabei ist der Krieg für die Ukraine eben noch lange nicht verloren, vor allem dann nicht, wenn der Westen sein Reaktionstempo dem Kriegsgeschehen anpasst. Putin hat noch nichts gewonnen, sondern er hat sein Land in einen Krieg mit erheblichen menschlichen, wirtschaftlichen und militärischen Verlusten gestürzt. Dass er keine Verhandlungen möchte, hat mehrere Gründe. "Jetzt zu verhandeln, nur weil ihnen die Munition ausgeht, wäre von unserer Seite irgendwie absurd", sagte er in einem Interview am 13. März. Aber der Kremlchef hat auch Angst vor der Endabrechnung, hält deshalb an diesem Krieg fest. Denn die erheblichen Verluste für Russland stehen in keinem Verhältnis zur Eroberung eines größtenteils zerstörten Landstreifens in der Ukraine, der nach dem Krieg wieder aufgebaut werden muss.
Denn es ist völlig unklar, wie Russland Teile der Ukraine langfristig besetzen soll. Es gibt zwar in Deutschland Stimmen aus der AfD oder aus dem Kreise von Sahra Wagenknecht (BSW), die stets behaupten, dass eine militärische Groß- oder Atommacht nicht verlieren könne. Aber das zeigt die jüngere Geschichte eben nicht: Die USA verloren in Vietnam, die Amerikaner, ihre Verbündeten und die Sowjets scheiterten jeweils in Afghanistan, der sowjetische Diktator Josef Stalin musste sich 1939 aus Finnland zurückziehen.
Es ist also selbst für eine militärische Großmacht ungemein schwer, ein Land mittelfristig zu unterwerfen, in dem die Bevölkerung die Besatzung ablehnt. Es ist gar wahrscheinlich, dass viele Ukrainer ihren bewaffneten Widerstand im Untergrund weiterführen würden, selbst wenn die ukrainische Armee nachgeben sollte. Für eine Befriedung der Ukraine nach einem möglichen russischen Kriegssieg hat auch Putin keinen Plan. Zwar ist seine Freude über die aktuellen Entwicklungen groß, aber er sitzt noch immer in dem Loch, das er sich mit dem Angriff auf die Ukraine selbst gegraben hat.
- zdf.de: Ramstein-Treffen: Gehen der Ukraine die Waffen aus?
- phoenix.de: Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe
- Gespräch mit Gustav Gressel
- Eigene Recherche