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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Militärexperte zeigt Weg zum Frieden auf "Hier liegt die Dominanz klar bei den Russen"
Die ukrainische Gegenoffensive ist gescheitert, die Front zum Stillstand gekommen. Ein Experte erklärt, wie der Westen in den kommenden Monaten agieren muss.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine steht vor seinem zweiten Winter. Noch immer ist kein Ende der Kampfhandlungen in Sicht. Mit großer Unterstützung westlicher Waffensysteme wollte die Ukraine jüngst eine groß angelegte Gegenoffensive durchführen.
Doch Militärexperte Wolfgang Richter stellt fest: "Wir müssen davon ausgehen, dass die Gegenoffensive gescheitert ist." Die Frontlinie sei zum Stillstand gekommen, nur an wenigen Brennpunkten wird derzeit intensiv gekämpft.
Für die kommenden Monate erwartet Richter einen Abnutzungskrieg, in dem Russland mit seinen erheblichen Ressourcen klare Vorteile gegenüber der Ukraine haben dürfte. Daher denkt der Experte über ein mögliches Ende des Krieges am Verhandlungstisch nach und zeigt einen Weg für die Ukraine und den Westen auf.
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“Insgesamt können wir heute davon ausgehen, dass die Front operativ zum Stillstand gekommen ist.”
In knapp drei Monaten jährt sich die Invasion russischer Truppen in die Ukraine zum zweiten Mal und noch immer ist kein Ende der Kampfhandlungen in Sicht. Auf Offensiven der Russen folgten Gegenoffensiven der Ukraine. Größere Landgewinne gab es für die Verteidiger zuletzt aber nicht mehr, wie Militärexperte Wolfgang Richter feststellt.
“Also zunächst einmal müssen wir davon ausgehen, dass die doch sehr groß angekündigte ukrainische Gegenoffensive, die ja eigentlich strategische Bedeutung haben sollte, gescheitert ist. Sie ist ausgelaufen vor etwa drei, vier Wochen trotz der Ausrüstung dieser neuen Kampfbrigaden der Ukrainer mit westlichen schweren Waffen, einschließlich Kampfpanzern, sehr viel Artillerie, Schützenpanzer etc., die alle vom Westen beigesteuert worden sind.
Der Fehler war wahrscheinlich, anzunehmen, dass diese qualitativ hochwertigen Waffen sogenannte Gamechanger sind. Das ist sehr oft diskutiert worden in der Öffentlichkeit von vermeintlichen oder wirklichen Militärexperten. Ich habe immer eine andere Auffassung gehabt. Nicht die einzelne Waffe ist ein Gamechanger. Es gibt keine Wunderwaffen, sondern es kommt immer auf den Gesamtansatz an, auf das Zusammenwirken vieler Waffen.”
Hinzu kommt die Tatsache, dass die Waffen der Ukrainer nach wie vor erheblichen russischen Ressourcen gegenüberstehen. Trotz hoher Verluste konnte der Kreml die Front verstärken, hat derzeit vermutlich rund 450.000 Soldaten in der Ukraine stationiert. Ein beträchtlicher Teil davon kämpft derzeit in und um Awdijiwka.
“Hier versuchen die Russen mit großer Macht, also mit einer großen Truppenkonzentration von vermutlich um die 40.000 Soldaten und sehr viel Gerät diese Ortschaft, die nordwestlich von Donezk liegt, zu erobern, weil sie glauben, dass das von großer operativer Bedeutung sein würde. Und es steht ja immer noch das Ziel der Russen im Raum, die administrativen Grenzen der Region Donezk zu erobern. Das ist bisher ja nicht geschehen, trotz der 21 Monate Krieg, in denen das versucht worden ist.”
Neben den Gefechten um Awdijiwka gab es zuletzt auch verstärkt Kampfhandlungen am Ufer des Dnipro. Nahe Cherson haben ukrainische Truppen den Fluss überquert und auf der Ostseite Stellung bezogen. Ob sie diese über den Winter halten können, wird sich zeigen. So oder so ändert auch dieser Vorstoß für Wolfgang Richter nichts am Status quo des Kriegs.
“Insgesamt können wir heute davon ausgehen, dass die Front operativ zum Stillstand gekommen ist.
Wir haben jetzt festzustellen, dass der Krieg wieder in einen Abnutzungskrieg übergegangen ist und einen Stellungskrieg. Das heißt: Im Abnutzungskrieg, der statisch geführt wird, kommt es dann am Ende darauf an: Wer verfügt langfristig über mehr Ressourcen? Und das ist Material und das ist natürlich auch das Personal, das dahintersteckt.”
Hohe Verluste in einem Abnutzungskrieg könne sich die Ukraine auf Dauer nicht leisten, sagt Wolfgang Richter. Dazu kommen politische Unsicherheiten bei den Unterstützern aus dem Westen. Die anstehenden Wahlen in den USA und das Wegbrechen von Partnern wie Polen erschweren die Situation zusätzlich.
“Dann ist natürlich schon die Frage, ob man nicht über eine Exit-Strategie nachdenken sollte, die ja im letzten Jahr schon mal möglich war. Im März des letzten Jahres gab es ja Verhandlungen zwischen den Ukrainern und den Russen, die schon sehr weit fortgeschritten waren.
Inwieweit es dann noch möglich wäre aus heutiger Sicht, auf so ein Kompromisspaket zurückzugreifen, ist natürlich hoch fragwürdig, denn im September hat Russland einen weiteren Schritt getan und hat vier weitere Gebiete annektiert, was natürlich nicht akzeptabel ist aus ukrainischer Sicht.
Aber die Frage ist: Wo ist die Alternative? Sie kann nicht in der Eskalation liegen und sie kann auch nicht in der Kapitulation liegen. Beide Alternativen sind undenkbar, jetzt auf alle Fälle. Und deswegen brauchen wir eine realistischere Exit-Strategie. Aber das bedeutet auch Verhandeln. Und wenn man Verhandlungen ausschließt, dann kann man auf solche Kompromisse auch nicht zugehen und auch nicht feststellen, was da möglich wäre. Ich glaube, das ist die Folge oder die Lehre aus dem, was wir in den fast zwei Jahren jetzt erlebt haben und aus der Pattsituation, die sich aus einem Abnutzungskrieg ergibt, in dem die Ressourcen-Dominanz ja eher bei den Russen liegt. Und das liegt nicht nur am Material, es liegt auch an Personalfragen. Und das müssen wir berücksichtigen.”
Verhandlungen dürften in jedem Fall schwierig werden. Es ginge dabei aller Voraussicht nach ebenso um den Status der Krim und der Gebiete im Donbass wie um die Frage, ob die Ukraine sich westlichen Bündnissen anschließen dürfte. Eine Entscheidung auf dem Schlachtfeld ist allerdings ebenso wenig in Sicht.
Wie Wolfgang Richter den aktuellen Stand des Krieges einschätzt, warum die ukrainische Gegenoffensive gescheitert ist und wie die Strategie für die nächsten Monate aussehen könnte, erfahren Sie im Video direkt hier oder oben.
- Interview mit Militärexperte Wolfgang Richter vom 28.11.2023
- Lagebericht des Institute for the Study of War (ISW)
- Aufnahmen aus der Ukraine via X, vormals Twitter