Zerstörte Stadt "Eine große Zukunft": Wie Russen Mariupol aufkaufen
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Immobilien sind kriegsbedingt günstig und die Lage am Meer erscheint gut: Russen finden offenbar Gefallen daran, Häuser im nahezu komplett zerstörten Mariupol zu kaufen.
Fährt man heute durch Mariupol, bietet sich ein Bild schwerster Zerstörung. "Mariupol war ein Schock", schilderte ein Russe kürzlich der Nachrichtenseite "Bumaga". Ein anderer berichtete von den Schäden der Bomben und zeigte sich ebenfalls beeindruckt. Es lohne sich "auf jeden Fall", das zerstörte Mariupol mit eigenen Augen zu sehen, sagte der Tourist.
Das Interesse an der zerstörten Stadt zeigt sich nun offenbar auch auf dem Wohnungsmarkt: Russischen Medienberichten zufolge sollen sich immer mehr Russen für Wohnungen und Häuser in der südukrainischen Stadt, die Russland völkerrechtswidrig besetzt hält, interessieren.
Mariupol wurde zu Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine belagert und wurde während drei Monate andauernder Kämpfe fast vollständig zerstört. Bomben fielen auf zentrale Versorgungseinrichtungen, Krankenhäuser, auf große Teile der Wohngebiete, das Theater. Tausende Menschen starben. Im Mai 2022 besetzte Russland die Stadt.
"Wiederaufbau": Hilfe durch Studierende und Kirchen vorgesehen
Anschließend wurden Pläne der russischen Besatzer zum "Wiederaufbau" bekannt. Unter anderem sollten einem Bericht der Nachrichtenseite "Verstka" zufolge 459 beschädigte Häuser abgerissen werden. Studierende sollen in die Stadt gebracht werden, um bei den Arbeiten zu helfen, Ehrenamtliche der Orthodoxen Kirche helfen nach Angaben russischer Behörden ebenfalls.
Das russische Exilmedium "Meduza" kommentiert das mit den Worten: "Die eigentliche Aufgabe besteht darin, die Spuren des Krieges schnell zu verwischen." Jeden Monat würden neue Abrissbefehle erteilt. Zeitgleich begannen die Besatzer offenbar damit, in der Stadt und im Internet, für den Immobilienmarkt zu werben – und das mit Erfolg.
Das St. Petersburger Nachrichtenkollektiv "Bumaga" hat bei VKontakte, dem russischen Pendant zu Facebook, etwa hundert Gruppen ausfindig gemacht, in denen Anzeigen über Kauf, Verkauf und Vermietung von Immobilien in Mariupol ausgetauscht werden. Ein Blick in die Foren zeigt: Im Krieg stieg offenbar bei immer mehr Russen das Interesse an Immobilien in der Stadt.
"Kaufe Immobilie in Mariupol. Schreiben Sie mir privat"
Bei "Immobilien in Mariupol und der Region Asow" meldeten sich seit der russischen Übernahme von Mariupol etliche Russinnen und Russen. Im Februar 2023 etwa eine Nutzerin, die auf ihrem Profil angibt, aus der russischen Stadt Kaluga nahe Moskau zu stammen: "Kaufe Immobilie in Mariupol." Sie sei flexibel und ziehe unterschiedliche Optionen in Betracht. "Schreiben Sie mir privat", postet Oksana.
Igor, der seinem Profil nach aus Irkutsk in Ostrussland stammt, schreibt wenig später: "Kaufe Grundstück am Meer. Vorzugsweise mit Haus". Der Zustand, notiert er, sei nachrangig. Im Juli meldet sich eine Julija aus dem russisch besetzten Donezk im Osten der Ukraine: "Kaufe Wohnung, 1-2 Zimmer, oder Haus, günstig."
"Bumaga" hat mit einigen potenziellen Käufern Kontakt aufgenommen. Einige erklärten demnach, dass sie Mariupol als Teil Russlands sähen und den Kauf von Immobilien in der besetzten Stadt nicht für riskant halten. Manche sehen Mariupol als lukrative Investition in die Zukunft, andere wünschen sich einen neuen Wohnsitz am Meer.
Zwar hätten Interessierte die Gefahrenlage in der Vergangenheit beängstigend gefunden, schreibt die Seite, die meisten vermuteten aber, dass die Stadt das Schlimmste überstanden habe. Die Mehrheit der Gesprächspartner, schreibt "Bumaga" weiter, gab an, noch nie in Mariupol gewesen zu sein. Vielen sei die Lage am Meer wichtig.
"Ich halte es für eine gute Investition"
Olesja aus Omsk in Sibirien etwa sucht ein Haus in Mariupol. "Ich halte es für eine gute Investition. Vielleicht wird es einigen seltsam vorkommen, aber ich glaube an die Entwicklung der Stadt." Unter Russland habe Mariupol "eine große Zukunft".
Eine Frau namens Irina aus dem südwestlichen Krasnodar sucht mit ihrer Familie ein Haus am Meer, "in gesunder Umgebung", zitiert "Bumaga". In Mariupol seien die Immobilien "noch recht günstig" und die Gehaltsangebote für ihren Mann, ein Elektriker, attraktiver.
Angebote sind auch auf russischen Wohnungsportalen zu finden, "Bumaga" hat einige dieser Internetseiten ausgewertet. Im Schnitt würden Wohnungen in Mariupol für drei Millionen Rubel (etwa 28.400 Euro) verkauft, heißt es. Die Eigentümer versuchten, sie dringend loszuwerden. Häuser und Grundstücke würden für 4,8 Millionen Rubel (etwa 45.400 Euro) verkauft.
Die teuerste Wohnung beim in Russland beliebten Anzeigenportal "Avito" in Mariupol werde für acht Millionen Rubel angeboten, berichtet "Meduza". Dabei handelt es sich offenbar um eine Zweizimmerwohnung. Sie liegt in einer Straße mit dem Namen "Mir" – Frieden.
- meduza.io: ""Во сне я до сих пор хожу по местам, которых больше нет" (russisch)
- meduza.io: "Хотим жить у моря в месте с хорошей экологией" (russisch)
- paperpaper.io: ""Война же не будет идти вечно". Кто и зачем покупает недвижимость в оккупированном Мариуполе" (russisch)
- verstka.ru: "Дом, в котором" (russisch)
- vkontakte: Igor Schitenko, Oksana Manjuk, Недвижимость Мариуполя и Приазовья (russisch)