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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg gegen die Ukraine "Putin hat eine furchtbare Drohung ausgesprochen"
Russland ist eine aggressive Macht, die mit Gewalt ihr verlorenes Imperium restaurieren will. Doch woher stammt diese Obsession? Historiker Martin Schulze Wessel über historische Irrwege.
Angriffskriege hatte Europa für überwunden gehalten, Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine hat uns eines Besseren belehrt. Doch woher stammt Russlands Zwang, sein Imperium um jeden Preis erneut errichten zu wollen? Der Historiker Martin Schulze Wessel erklärt, wie der "imperiale Fluch" entstand – und welchen anderen Weg Russland nach seiner Überwindung nehmen könnte.
t-online: Professor Schulze Wessel, ein einziger Mann ist imstande, den Krieg in der Ukraine zu beenden: Wladimir Putin. Wann wird er dazu bereit sein?
Martin Schulze Wessel: Wladimir Putin hat ein großes Ziel – er will als "großer Mann" in die Geschichte eingehen. Dazu sollte ihm nach Beginn der Invasion im Februar 2022 die handstreichartige Einnahme Kiews verhelfen, nun muss es nach seinem Willen dieser brutale Krieg sein. Nur durch Verhandlungen lässt sich Putin nicht zu einem Waffenstillstand bewegen. Erst wenn er die Niederlage vor Augen hat, wird er zu wirklichen Verhandlungen bereit sein, die vielleicht für einen Waffenstillstand genutzt werden können.
Gekämpft wird in der Ukraine, Putin hat allerdings dem gesamten Westen den Kampf angesagt.
In der Tat, seine Kampfansage gilt uns allen. Auch Deutschland ist davon betroffen, ungeachtet der langen Sonderbeziehungen, die zwischen beiden Ländern gepflegt wurden. In vielen Reden Putins gibt es einen Subtext, der speziell an Deutschland gerichtet ist und gemeinsame Wirtschaftsinteressen oder auch vermeintlich gemeinsame historische Kränkungen durch die Westmächte, etwa nach dem Ersten Weltkrieg, anspricht. Putin ist ein Meister der Täuschung. Seine Angebote zur wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Energiebereich, die Deutschland gerne angenommen hat, erwiesen sich nach dem 24. Februar 2022 als überaus verhängnisvoll.
Martin Schulze Wessel, Jahrgang 1962, lehrt Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Direktor des Instituts Collegium Carolinum, das die Geschichte Tschechiens und der Slowakei erforscht. Zusammen mit seinem ukrainischen Kollegen Jaroslaw Hrytsak hat er 2014 die Deutsch-Ukrainische Historische Kommission gegründet. Kürzlich erschien sein Buch "Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte".
Wir im Westen wollten lange Zeit in Putin vor allem das "Gute" sehen.
Innerhalb des politischen Spektrums Russlands hat sich Putin immer wieder als pragmatischer Staatsmann präsentiert, der angeblich die Ultranationalisten in Schach halte. Als "lupenreinen Demokraten" hat ihn nur sein Freund Gerhard Schröder bezeichnet, aber viele hingen dem Glauben an, dass Putin in der russischen Politik eine gemäßigte und verlässliche Figur darstelle. Lange vor dem 24. Februar hätte klar sein müssen, dass Putin in Wirklichkeit eine aggressive, imperiale und diktatorische Politik betreibt. Er ist zusammen mit seiner Entourage die schlimmste Variante in der russischen Politik.
Kaum jemand hätte Putin jemals zugetraut, das lukrative Energiegeschäft mit dem Westen aufs Spiel zu setzen.
Die deutsche Politik hat einen kardinalen Fehler begangen. Viel zu spät wurde erkannt, dass es Russland in diesem Krieg nicht um für uns rational nachvollziehbare Interessen der herrschenden Clique geht. Nein, Mythen und Obsessionen aus der Geschichte Russlands sind die Basis. Und mit einem Mann wie Putin, der sich auf einer historischen Mission wähnt, lässt sich nur schwer verhandeln.
"Fluch des Imperiums" lautet der Titel Ihres neuen Buches. Ist es tatsächlich ein "Fluch", unter dem Russland steht?
"Fluch" verstehe ich als eine historische Kontinuität oder Pfadabhängigkeit, der nur schwer zu entrinnen ist. In Russland ist die Vorstellung dominant, dass es nur existieren könne, wenn es über ein Imperium verfügt – und damit Einfluss und Herrschaft über andere Nationen ausübt. Diese imperiale Ideologie lässt sich tatsächlich als Russlands Fluch bezeichnen. Dieses Denken wurzelt im 18. und 19. Jahrhundert und setzt sich mit Wladimir Putin bis in unsere Gegenwart fort.
Putin ist entsprechend seit gut einem Jahrzehnt damit beschäftigt, sein Expansionsstreben pseudohistorisch zu untermauern.
Putin hat eine furchtbare Drohung ausgesprochen: Er kann die Existenz eines unabhängigen ukrainischen Nationalstaats nicht dulden. Mit der Invasion will er seine Worte nun in die Realität umsetzen. So schrecklich die Wirkungen der imperialen Politik für die Ukraine sind, so dramatisch sind die Auswirkungen auf Russland selbst.
Weil es sich fortwährend von imaginierten Feinden und angeblichem Verrat bedroht fühlt?
So ist es. Die russische Gesellschaft wähnt sich in einem immerwährenden Kriegszustand, um imperiale Ansprüche zu verteidigen oder durchzusetzen. Das wird ihr im Staatsfernsehen täglich vermittelt.
Wie tief ist aber das imperiale Denken in Russlands Politik und Gesellschaft verankert? Nicht nur Wladimir Putin strebt nach Revanche und Expansion.
Die imperiale Ideologie ist in Russland nicht auf Sowjetnostalgiker und Ultranationalisten beschränkt. Auch viele, die als Liberale gelten, teilen sie. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 begann sofort das Bestreben nach der Wiederherstellung des Imperiums – zunächst in Geheimdienstkreisen und in den dubiosen Kreisen von geopolitischen Vordenkern. Die russische Politik wollte sich nicht mit dem Ende des Imperiums abfinden – und versuchte zunächst, sich dem alten Zustand durch wirtschaftliche Integration und politische Kooperation mit den früheren Sowjetrepubliken erneut anzunähern. An dieser Politik waren auch westlich orientierte russische Liberale beteiligt.
Der russischen Assimilierungspolitik gegenüber der Ukraine stellten sich die russischen Liberalen auch im 19. Jahrhundert nicht in den Weg.
Im Zarenreich, aber auch in europäischen Nationalstaaten, definierten sich die Liberalen als Modernisierer. Viele russische Liberale betrachteten die Assimilation der nichtrussischen Bevölkerung eben als Teil dieses "Fortschritts". Die repressive zaristische Politik betraf neben der Ukraine auch insbesondere Polen.
Das seit den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert zu großen Teilen unter russischer Herrschaft stand.
Richtig. Für die Geschichte des russischen Imperialismus und seines historischen Konflikts mit dem Westen ist Polen von großer Bedeutung. Als 1830/31 der polnische Aufstand gegen die Zarenherrschaft ausbrach und blutig niedergeschlagen wurde, schrieb der russische Nationaldichter Alexander Puschkin ein Gedicht mit dem Titel "An die Verleumder Russlands", das zugleich polenfeindlich und antieuropäisch war. Den russisch-polnischen Konflikt wollte er als slawische Familienangelegenheit verstanden wissen, in die sich die Europäer nicht einmischen sollten. Der Aufstand hatte eine immense Wirkung für die Art und Weise, in der Russland zukünftig mit Polen umging. Puschkin formulierte damals die glasklare Alternative, dass Russland als Nation und Imperium nur bestehen könne, wenn es Polen besiegt und assimiliert.
Eine Denkweise, die Putin nun auf die Ukraine übertragen hat.
Ja, das zeige ich in meinem Buch "Der Fluch des Imperiums". So wie Polen für den Kreml ein Werkzeug des Westens war, so betrachtet Russland heute die Ukraine als verlängerten Arm der USA und Westeuropas. Russland entstand als europäisches Imperium, indem es die Ukraine inkorporierte und Polen zusammen mit Österreich und Preußen aufteilte. Polen und die Ukraine haben eine parallele Geschichte: Beide Länder sind seit dem 18. Jahrhundert in den Orbit des russischen Imperiums geraten und haben sich dennoch als europäische Nationen behauptet.
Polen hat Deutschland in den letzten Jahren immer wieder vor Russlands Revanchismus gewarnt – und zählt seit Kriegsbeginn zu den größten Unterstützern der Ukraine.
"Unsere Herzen schlagen im selben Takt", hat Präsident Wolodymyr Selenskyj bei seinem Staatsbesuch in Polen vor dem Warschauer Schloss gesagt. Das klingt in unseren Ohren vielleicht pathetisch und emotional, aber tatsächlich teilen Polen und Ukrainer die historische Erfahrung, vom russischen Imperium beherrscht zu werden. Und diese Erfahrung wollen beide Nationen nicht wiederholen. Polnische und ukrainische Politik hat historische Zerwürfnisse zwischen beiden Nationen – etwa ukrainisch-polnische Massaker im Zweiten Weltkrieg – bewusst hinter sich gelassen und aus dem guten bilateralen Verhältnis eine Staatsräson gemacht, die politisch vernünftig und emotional vertieft ist.
Die Verbrechen, die Deutsche einst während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine begangen haben, legen uns eine besondere Verantwortung für das Land auf.
Das ist absolut richtig. Lange gab es in Deutschland nur gegenüber Russland, nicht gegenüber der Ukraine oder Belarus, ein Bewusstsein für historische Schuld. Dabei waren die Opfer im Verhältnis zur Einwohnerzahl in der Ukraine, Belarus und Polen am höchsten.
Der Historiker Mark Galeotti schreibt, dass die "Geschichte ein Fluss" sei, der nicht "zurückfließt". Genau das versucht Putin nun mit der Ukraine und ihrer Geschichte zu bewerkstelligen. Wird er eines Besseren belehrt werden?
Putin fehlt das historische Urteilsvermögen. Er hat es wohl tatsächlich für möglich gehalten, die Entwicklung der Ukraine hin zu einer Demokratie und Zivilgesellschaft rückgängig machen zu können. Da hat sich Putin vertan, die Ukraine der Gegenwart ist weder die des Zarenreichs noch die der Sowjetunion. Sie ist nicht einmal mehr das Land, dem Putin 2014 die Krim wegnehmen konnte. Die Ukraine ist heute eine politisch geeinte Nation, das hat spätestens die Entwicklung seit dem 24. Februar 2022 gezeigt.
Während Russland eine von Putin kontrollierte Diktatur ist. Gab es eigentlich in der russischen Geschichte einen Zeitpunkt, an dem das Land eine Entwicklung weg von seinem imperialen Fluch hätte nehmen können?
In Russland gibt es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion zwei Lager. Das eine will das Imperium wieder errichten, das andere macht genau im Imperium den Grund für den Irrweg Russlands in der Geschichte aus. Leider ist das letztere Lager seit einem kleinen Zeitraum zwischen 1988 und 1991 kaum mehr im öffentlichen Diskurs auszumachen.
Der beste Beweis dafür ist Russlands Krieg gegen die Ukraine seit 2014.
Dabei haben die Kritiker des Imperiums gute Argumente auf ihrer Seite. Imperiale Ansprüche sorgen stets für Spannungen mit den Nachbarstaaten, mit den beherrschten Ethnien und Nationen sowieso. Militär und Sicherheitskräfte haben einen hohen Mittelbedarf, Geld, das ebenso gut in den Bildungs- und Gesundheitssektor gesteckt werden könnte. Außerdem befindet sich eine imperiale Ordnung zwangsläufig in einem Spannungsverhältnis mit Zivilgesellschaft und Demokratie.
In Russland hat es allerdings mehrere Persönlichkeiten gegeben, die einen anderen politischen Kurs hatten einschlagen wollen.
Mit Boris Nemzow ist 2015 einer der begabtesten und hoffnungsvollsten Politiker Russlands ermordet worden. Die Umstände sind bis heute ungeklärt, der Tatort befand sich unweit des Kremls. Dass die Tat ohne Putins Wissen geschehen ist, darf bezweifelt werden. Bereits 2006 wurde wiederum die Journalistin Anna Politkowskaja erschossen. Putins Regime hat nach und nach alle Alternativen ausgeschaltet, zuletzt Alexei Nawalny.
Also kann nur eine Niederlage in der Ukraine Putins Macht erschüttern.
Damit würde Putin eine Delegitimierung erleiden. Ein Kollaps seines Regimes würde aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zu einer sofortigen Demokratisierung des Landes führen. Dies ist ein langwieriger Prozess, der couragierte Politiker und Politikerinnen, Bürgerinnen und Bürger erfordert.
Vorausgesetzt, ein solcher Prozess begänne in den nächsten Jahren in Russland – wie könnte sich das Land entwickeln, wenn es seine imperialen Ambitionen aufgibt?
Russland könnte ein eurasisches Kanada werden, ein friedliches Land, das zusätzlich zu seinen immensen Bodenschätzen über einen ertragreichen Agrar-, Industrie- und Dienstleistungssektor verfügt. Das ist wesentlich erstrebenswerter als die Pläne Wladimir Putins, der für seinen imperialen Wahn die Ukraine in Schutt und Asche legt und seinem eigenen Land die Zukunft nimmt.
Professor Schulze Wessel, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Martin Schulze Wessel via Telefon