Schicksalsschlacht im Süden Bericht: Putin verbietet Rückzug aus Cherson
Der Kremlchef schaltet sich laut US-Geheimdiensten zunehmend direkt in den Kriegsverlauf ein. Offenbar will er die nächste militärische Blamage verhindern.
Russlands Präsident Wladimir Putin hat russischen Verbänden im südukrainischen Cherson verboten, die Stadt zu verlassen. Das berichtet die "New York Times" unter Berufung auf US-Geheimdiensterkenntnisse. Kommandeure hatten demnach bei Putin um Erlaubnis gebeten, sich auf das linke Flussufer des Dnepr und damit aus der Stadt zurückzuziehen. Doch der Kremlchef habe die Bitte nach einem geordneten Rückzug abgelehnt, so die Zeitung.
Das strategisch wichtige Cherson am Ufer des Dnepr fiel als erste große Stadt in die Hände der russischen Besatzer. Seit Monaten versucht die Ukraine den Ort zurückzuerobern, beschießt Brücken und Logistiklinien. Experten zufolge ist das Ziel der ukrainischen Armee, russische Einheiten komplett vom Nachschub abzuschneiden und in der Stadt einzukesseln. Ein geordneter Rückzug zum jetzigen Zeitpunkt könnte fluchtartige Rückzugsbewegungen und eine weitere militärische Blamage wie zuletzt in der Region Charkiw verhindern.
Doch bislang verhindert der Kremlchef offenbar die gewünschte Verlegung der Truppen – mit möglicherweise fatalen Folgen: Putins Veto habe zu einem Rückgang der Moral unter den russischen Truppen geführt, berichtet die "New York Times" weiter. Wegen des ständigen ukrainischen Beschusses auf Nachschublinien fürchteten anscheinend viele russische Soldaten, dass sie eingekesselt werden könnten, so die Zeitung. Die schlechte Moral von Putins Truppen gilt als entscheidender Faktor bei den hohen russischen Verlusten.
"Spannungen" zwischen Putin und seinen Generälen
Bei anderen militärischen Entscheidungen scheint sich Putin ebenfalls zunehmend stärker einzuschalten, will die "New York Times" von hochrangigen US-Beamten erfahren haben: Der Kremlchef spiele hinter den Kulissen eine immer wichtigere Rolle für den Kriegsverlauf. Dazu gehörten auch Mitteilungen an Kommandeure, dass strategische Entscheidungen vor Ort bei ihm zu treffen seien.
Putin habe zwar einige Empfehlungen von Militärkommandeuren akzeptiert, einschließlich der Mobilisierung von Zivilisten, doch sorgten seine direkten Befehle für "Spannungen" in der russischen Armee, so die US-Zeitung.
Putins aktiver Eingriff in die Befehlskette veranschauliche, wie kritisch der Krieg im Süden der Ukraine für beide Seiten sei, so US-Beamte zu der Zeitung. Trotz der jüngsten Fortschritte der Ukraine in der Region Charkiw im Nordosten sei das Gebiet um Cherson ein "kritischer Schauplatz des Krieges". Der Ausgang der Kämpfe dort habe tiefgreifende strategische Auswirkungen auf Kiew und Moskau.
- nytimes.com: As Russian Losses Mount in Ukraine, Putin Gets More Involved in War Strategy (englisch)