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Russland – Kritik an Wladimir Putin: "Alles ist schiefgelaufen"


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Druck auf Putin nimmt zu
"Manche sprechen von einer schlimmen Niederlage"


Aktualisiert am 13.09.2022Lesedauer: 5 Min.
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In den Talkshows im russischen Staats-TV mehren sich die Zweifel an der russischen Kriegsführung (Quelle: Social). (Quelle: t-online)
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Verliert Putin in Russland an Rückhalt? Die Kritik an seiner Kriegsführung wird immer lauter – aber bis zur breiten Masse dringt sie trotzdem kaum vor.

"Der Krieg in der Ukraine wird bis zur vollständigen Niederlage Russlands weitergehen", wetterte der russische Ultranationalist Igor Girkin vergangene Woche in einem Video, das er an seine 430.000 Abonnenten auf Telegram schickte. "Wir haben bereits verloren, der Rest ist nur noch eine Frage der Zeit." Schon seit Monaten beklagt der ehemalige Oberst des russischen Geheimdienstes taktische Fehler der russischen Armee – und damit ist er längst nicht mehr allein.

Jüngst sorgte Kritik von Putins "Bluthund", dem Chef der russischen Teilrepublik Tschetschenien, für Aufsehen. "Wenn nicht heute oder morgen Änderungen an der Durchführung der militärischen Spezialoperation vorgenommen werden, bin ich gezwungen, zur Staatsführung zu gehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären", teilte Ramsan Kadyrow am Sonntag auf Telegram mit. In der Audionachricht sprach er von "Fehlern", die gemacht worden seien. Kadyrow zeigt sich sonst höchst loyal gegenüber dem russischen Präsidenten und unterstützt den Krieg mit eigenen Soldaten.

Ukrainische Truppen erzielen Geländegewinne in Charkiw

Anlass für die zunehmende Kritik in den vergangenen Tagen ist vor allem die Rückeroberung der Region Charkiw durch die ukrainischen Truppen. Russland erklärte danach den Abzug von Soldaten aus den Städten Balaklija und Isjum. Moskaus Front wankt – und damit auch der Rückhalt für Putin?

In den Reihen russischer Politiker wird der Ton jedenfalls rauer. "Wir finden, dass die Handlungen von Präsident W. W. Putin Russlands Zukunft und seinen Bürgern schaden", schrieb Xenia Torstrem, Abgeordnete eines St. Petersburger Bezirksrats, am Dienstagmorgen auf Twitter. Sie veröffentlichte eine Petition für den Rücktritt des Präsidenten, die bislang von mehr als 40 Lokalpolitikern aus insgesamt 18 Bezirken der Ostsee-Metropole St. Petersburg sowie der Hauptstadt Moskau unterzeichnet worden sein soll.

Kritik an Putin: "Alles ist schiefgelaufen"

Schon vergangene Woche gab es Gegenwind aus einem Moskauer Stadtbezirk. "Alles ist schiefgelaufen", kritisierten Vertreter aus Lomonossow den Kremlchef. Das Bruttoinlandsprodukt habe sich nicht wie versprochen verdoppelt, der Mindestlohn sei nicht wie erwartet gestiegen, und viele intelligente und fleißige Menschen verließen Russland in Scharen, lauteten die Vorwürfe.

Die Lokalpolitiker forderten unverzüglich Konsequenzen für Putin: "Wir bitten Sie (...), Ihren Posten zu räumen, da Ihre Ansichten und Ihr Führungsmodell hoffnungslos veraltet sind." Die Rhetorik des Präsidenten sei von "Intoleranz und Aggression" durchsetzt und werfe Russland zurück in die Zeit des Kalten Kriegs.

"Die repressive Maschine ist nach wie vor in vollem Gange"

Dmitri Paljuga, Abgeordneter des St. Petersburger Stadtbezirks Smolninskoje, kritisierte die russische Kriegsstrategie ebenso scharf. "Wir wollen den Menschen zeigen, dass es Abgeordnete gibt, die mit dem aktuellen Kurs nicht einverstanden sind", sagte Paljuga vergangene Woche der russischen Investigativplattform "The Insider". Man wolle den Leuten zeigen, dass man keine Angst habe, darüber zu sprechen. Zusammen mit weiteren Abgeordneten will der Politiker eine Forderung an die Staatsduma stellen: Der russische Präsident solle wegen des Krieges in der Ukraine des Hochverrats angeklagt werden.

Die direkten Auswirkungen solcher Protestaktionen dürften äußerst gering sein, dennoch sind sie nicht ungefährlich. Seit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar geht Russlands Justiz besonders hart gegen Oppositionelle und Andersdenkende vor, die sich kritisch zu der "militärischen Spezialoperation", wie der Krieg in Russland genannt werden muss, äußern. Auch den Politikern in Smolninskoje droht eine Anklage wegen der Verunglimpfung der russischen Streitkräfte – und schlimmstenfalls viele Jahre Straflager. "Die repressive Maschine ist nach wie vor in vollem Gange", sagt die Russlandexpertin Anna Litvinenko zu t-online.

Dr. Anna Litvinenko hat Journalistik in Sankt Petersburg studiert und arbeitete als Journalistin für verschiedene russische und deutsche Medien. Nach ihrer Promotion im Jahr 2007 wurde sie assoziierte Professorin der Sankt Petersburger Universität. Von 2015 bis 2020 war Litvinenko Mitglied der Emmy-Noether-Forschungsgruppe "Zur Medialisierung (semi-)autoritärer Herrschaft: Die Macht des Internets im postsowjetischen Raum" an der Freien Universität Berlin. Dort ist sie nun wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle "Digitalisierung und Partizipation" am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.

"Unter Putins Anhängern gibt es offenbar eine Spaltung"

Sie stellt allerdings eine gewisse Veränderung fest: "Unter Putins Anhängern gibt es offenbar eine Spaltung." Auf der einen Seite stünden die russischen Medien, vor allem die staatlichen, die so weit wie möglich so täten, als habe sich im Krieg nichts verändert. Die Rückschläge in Charkiw würden "Umgruppierungen" genannt. Man weise darauf hin, dass es strategisch so geplant gewesen sei, um Kräfte einzusparen, und lege den Fokus in der Berichterstattung auf die ukrainischen Verluste, erklärt die Expertin. "Auf russischer Seite wird hingegen von einzelnen Heldentaten erzählt, um von den Misserfolgen abzulenken."

Anderseits fühlten sich manche Verfechter der sogenannten "Spezialoperation" verraten, weil sie davon ausgingen, dass Putins Ziele gescheitert seien. Unter den nationalistischen Korrespondenten habe sich die Stimmung geändert, sagt Litvinenko. "Manche von ihnen sprechen von einer schlimmen Niederlage in der Ukraine." Die kritischen Stimmen der liberalen Seite fänden sich fast alle im Ausland oder im Gefängnis; die aus der rechten Ecke hingegen seien neu. Sie konstatierten viele Verluste, Fehler und militärische Probleme in der Armee. "Man wird jetzt vermutlich versuchen, einen Sündenbock zu finden", sagt die Expertin.

Massive Kritik im öffentlichen Fernsehen

Inzwischen mehren sich auch die kritischen Stimmen im russischen Fernsehen. Ein ehemaliger Abgeordneter der Staatsduma, Boris Nadezhdin, sagte etwa vor wenigen Tagen in einer Debatte: "Wir sind nun an einem Punkt, an dem wir verstehen müssen: Es ist absolut unmöglich, die Ukraine mit den Mitteln und Methoden des Kolonialkriegs zu besiegen, mit denen Russland versucht, einen Krieg zu führen, indem es Vertragssoldaten, Söldner und keine Mobilisierung einsetzt." Der russischen Armee stehe eine starke Armee gegenüber, die von den wirtschaftlich und technologisch stärksten Ländern voll unterstützt werde. Nadezhdin schlug deshalb Friedensgespräche vor. Sehen Sie die Szenen oben im Video oder hier.

Auch der Kriegsblogger Juri Podoljaka, ein Propagandist mit guten Verbindungen zum russischen Militär, hat seinen Ton verschärft. Auf Telegram schreibt er am Dienstagmorgen: "Es ist ein Zeichen dafür, dass selbst die hochrangige russische Führung die Tatsache nicht vollständig versteht und akzeptiert, dass wir uns im Krieg befinden, dass die Dinge nicht nach Plan laufen und dass, wenn nichts geändert wird, alles nach dem Plan Washingtons laufen wird." Podoljaka fordert bis zum Frühjahr "ernsthafte Reformen in der Armee und an der Heimatfront".

Empörung über Feierlichkeiten in Moskau

Er spricht sich zudem dafür aus, den Krieg in Russland von nun an auch als solchen zu bezeichnen und nicht mehr als "Spezialoperation". "Dies umso mehr, als während der Operation Isjum jedem Idioten, der sich wirklich für Politik und Krieg interessiert, klar wurde, dass wir uns nicht im Krieg mit der Ukraine, sondern mit der Nato und um das Recht, auf unserem Land zu leben, befinden", wütet der Blogger vor seinen mehr als 2,3 Millionen Followern.

Strenges Zensurgesetz in Russland

Kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges hat der Kreml ein neues Gesetz eingeführt, das die Diffamierung der russischen Armee unter Strafe stellt. Wer das Ansehen von Putins Streitkräften durch vermeintliche oder reale Falschmeldungen beschmutzt, dem drohen in Russland bis zu 15 Jahre Gefängnis. Worte wie "Krieg", "Angriff", oder "Kriegserklärung" sind verboten.

Podoljaka ist auch einer von jenen, die sich über die Feierlichkeiten in Moskau am vergangenen Wochenende empören. Die einen kämpften für das Recht zu leben, während die anderen feierten, als wäre nichts geschehen, kritisiert er. "Das ist ein krasser Kontrast", sagt Expertin Litvinenko. Sie erklärt, dass seit Beginn des russischen Angriffskrieges auffallend mehr gefeiert werde. Das sei sehr seltsam. Zum Beispiel gebe es oft Straßenfeste in Klein- und Großstädten. Besonders groß war die Kritik in diesem Zusammenhang am Kremlchef selbst. Denn während seine Armee in der Region Charkiw scheiterte, eröffnete Putin in der russischen Hauptstadt ein Riesenrad.

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"Auf diese Weise versucht man, die Bevölkerung zu betäuben", so Litvinenko. Man wolle die Illusion der Normalität und Stabilität bewahren – suggerieren, dass alles wie früher weitergehe. Das scheint weitgehend auch zu klappen: Die Stimmung in der Bevölkerung sei nicht gekippt, sagt die Russlandexpertin. Die Veränderung betreffe die Eliten.

Und wie reagieren Putin und seine Umgebung auf die zunehmende Kritik? "Höchstwahrscheinlich mit mehr Repression", so Litvinenko.

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