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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Großartige strategische Leistung" Erst antäuschen, dann zuschlagen: Ukrainer überrumpeln Russen
Die ukrainische Gegenoffensive im Süden scheint ein Ablenkungsmanöver zu sein. Die größte Gefahr droht Putins Truppen jetzt im Donbass.
Wäre der Krieg gegen die Ukraine ein Boxkampf, würden wir die russische Armee jetzt taumeln sehen. Von den Ukrainern geschickt an die südliche Front bei Cherson gelockt, haben Putins Truppen ihre Verteidigung bei Charkiw im Nordosten des Landes geschwächt – und kassieren dort jetzt einen Schlag nach dem anderen. Frontberichten beider Seiten zufolge rücken die ukrainischen Truppen im Eiltempo auf die Stadt Kupiansk vor, dem wichtigsten Logistikzentrum der Besatzer in der Ostukraine.
"Russische Kriegsblogger fürchten, dass der ukrainische Gegenangriff auf die Versorgungslinien der russischen Truppen zwischen Kupiansk und Isjum abzielt", schreiben die US-Forscher des renommierten "Institute for the Study of War" (ISW) in ihrem jüngsten Lagebericht. "Das würde es den Ukrainern ermöglichen, russische Stellungen in der Region zu isolieren und große Gebiete zurückzuerobern. Aus den Berichten dieser Blogger sprechen Panik und Verzweiflung, sie bestätigen die ukrainischen Erfolge und glauben, dass die ukrainische Offensive im Süden nur eine Ablenkung ist."
Ukraine: 20 Orte bei Charkiw befreit
Das glaubt auch der Militärexperte Gustav Gressel: "Die Gegenoffensive um Charkiw verläuft viel schneller als die in Cherson, und ich würde tippen, dass das ganze Gerede um Cherson eine Verschleierung war, um die Vorbereitungen der Charkiw-Offensive zu vernebeln", sagte Gressel t-online. Die ukrainische Armee bestätigte am Donnerstag die Befreiung von 20 Ortschaften in der Region Charkiw und teilte auf Twitter Aufnahmen einer Drohne. Die Bilder sollen die Zerstörung eines russischen Luftabwehrsystems vom Typ S-300 bei Balakliya zeigen.
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Die Befreiung von Balakliya gilt als bestätigt, die Ortschaft liegt etwa 80 Straßenkilometer südwestlich von Kupiansk. Bislang unbestätigten Berichten zufolge stehen die Ukrainer inzwischen sogar schon vor Schewtschenkowe – nur noch etwa 36 Kilometer westlich des russischen Logistikzentrums. Auf dieser Karte sind die jüngsten mutmaßlichen Fortschritte der Ukrainer gut zu erkennen:
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Russisches Drehkreuz Kupiansk in Gefahr
Sollte der ukrainische Vormarsch auf Kupiansk gelingen, wären die russischen Truppen in der Ostukraine in höchster Gefahr. In der 30.000-Einwohner-Stadt kreuzen sich zwei nach Russland führende Bahnstrecken, über die die russische Armee in den besetzten Gebieten den Großteil ihres Nachschubs erhält. Von Kupiansk aus führen drei Bahnstrecken aus in Richtung Westen, Süden und Südosten. Über diese Strecken gelangt der Nachschub zum regionalen Hauptaufmarschgebiet der Russen in Isjum, aber auch nach Lyman und Sjewjerodonezk, das die Russen im Juni erobert hatten.
Dabei müssen die Ukrainer Kupiansk nicht einmal vollständig erobern, wie Thomas C. Theiner erläutert: "Wenn Kupiansk unter Artilleriefeuer gerät, sind die russischen Nachschublinien nach Isjum verloren", schreibt der frühere Berufssoldat der italienischen Armee auf Twitter. Theiner teilte dazu eine Karte, die gelben Kreise zeigen die maximale Reichweite der ukrainischen Artillerie an:
Mit präzisen Distanzangriffen könnte die Ukrainer schon jetzt Brücken und Nachschubwege der Russen angreifen und diese so in eine ähnliche Lage zwingen wie an der Südfront bei Cherson, so Theiner. Bei Cherson attackiert die ukrainische Armee seit mehreren Wochen erfolgreich russische Munitionslager und Kommandoposten sowie die Brücken über den Dnipro und den Inhulets. Auch dort hat die ukrainische Armee in den vergangenen Tagen Erfolge erzielt.
"Großartige strategische Leistung"
"Dieses Vorgehen würde den Ukrainern zwei Möglichkeiten eröffnen", schreibt Militärexperte Theiner: "Entweder sie erobern Kupiansk und treiben die eingeschlossenen russischen Truppen zur Aufgabe, oder sie lassen den Russen eine Fluchtroute nach Norden und beschießen sie dann mit Drohnen und Artillerie." Die zweite Möglichkeit würde die russischen Truppen brutal dezimieren, und das bei minimalen Verlusten für die Ukrainer. "Egal, wie sich die Ukrainer entscheiden, die russischen Verbände dort sind verloren und Putin hat nicht genug Truppen für einen Gegenangriff."
Auch andere Militärexperten und Kriegsbeobachter äußern sich überrascht vom Vorgehen der Ukrainer. Diese seien exzellente Strategen, schreibt der britische Konfliktforscher Mike Martin auf Twitter: "Sie zwingen die Russen jetzt immer wieder, Entscheidungen zu treffen, die sie nicht treffen wollen, und dessen Ergebnisse alle schlecht für sie sind." Der US-Militärhistoriker Phillips P. O'Brien lobt die groß angekündigte Offensive im Süden bei Cherson als "großartige strategische Leistung" der Ukrainer: "Das hat die Russen dazu gebracht, einige ihrer besten Truppen nach Cherson zu verlegen und ihre Linien bei Charkiw auszudünnen."
Unterdessen setzte die ukrainische Armee ihre Angriffe auf die Besatzer auch an der Südfront bei Cherson fort. "Die systematischen Präzisionsschläge gegen anfällige Flussübergänge dürften weiter Druck auf die russischen Kräfte ausüben", schrieb das britische Verteidigungsministerium in seinem jüngsten Lagebericht. Das verlangsame die Fähigkeit Moskaus, Reserven und Nachschub an Material aus dem Osten der Ukraine an die Südfront zu bringen. Was die ukrainische Armee zuletzt auf Twitter schrieb, fällt wohl unter psychologische Kriegsführung: "Laut Wetterbericht soll es heiß werden auf der Krim."
- Email von Gustav Gressel vom 7. September 2022
- understandingwar.org: Russian Offensive Campaign Assessment, September 7 (englisch; Stand: 8. September)
- twitter.com: Tweet von Mike Martin (englisch; Stand: 8. September 2022)
- twitter.com: Tweet von Phillips P. Obrien (englisch; Stand: 8. September 2022)
- twitter.com: Tweet der ukrainischen Armeeführung (englisch; Stand: 8. September 2022)
- Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- Eigene Recherche